Von den Sternen gekuesst
richtig aufgewühlt aus. Er schob eine Hand in die Hosentasche, während er sich mit der anderen die Stirn rieb. »Ja, es kam damals zu ein paar bedauerlichen Ereignissen …«, setzte er zögerlich an, wurde jedoch von einem Aufschrei unterbrochen.
»Ich weiß es wieder!«, tönte Bran. Wir alle eilten zurück zum Thymiaterion, um das Bran aufregt herumtänzelte, dabei nacheinander die Symbole berührte und irgendetwas sang. Seine stark vergrößerten Augen fokussierten kurz jeden Einzelnen von uns. »Es ist ein Kinderlied, das meine Mutter mir beigebracht hat. Sie selbst hat es von ihrem Vater gelernt.«
»Bitte«, drängte Mr Gold, »fahren Sie doch fort.«
»Es geht folgendermaßen«, sagte Bran und setzte mit einem leiernden Singsang ein:
Mensch aus Lehm wird Mensch aus Fleisch,
unsterbliches Blut und sterblicher Atemzug,
Spuren sollen die Seele binden,
durch Flammen sich des Körpers Geist
und Verstand einfinden.
»Fleisch und Atemzug reimt sich nicht«, murmelte Jules.
»Auf Altbretonisch schon«, sagte Bran trocken. »Sehen Sie, der Krug ist aus Lehm, dort ist das Blut, der Fächer steht für den Atemzug und die Flammen erklären sich von selbst«, zählte er auf. Doch dann, mit einer Geste Richtung Kiste, gab er zu: »Aber wofür die steht, weiß ich immer noch nicht.«
»Was genau bedeutet denn der Text?«, fragte ich.
Im Bruchteil einer Sekunde wandelte sich Brans Gesichtsausdruck von enthusiastisch zu niedergeschlagen. »Ich habe leider nicht den leisesten Hauch einer Ahnung.«
L ehm zu Fleisch‹«, wiederholte ich. Die Worte wirbelten eine Erinnerung auf, die sich nicht greifen lassen wollte. Dann fiel mir plötzlich wieder ein, wo ich ihnen schon einmal begegnet war. »Unter einem der Wandgemälde in eurem Familienarchiv standen die lateinischen Begriffe argilla und pulpa «, sagte ich an Bran gerichtet. »Darauf war eine zusammengerollte Gestalt abgebildet. Sie lag in etwas, das ich für eine Wanne gehalten hatte. Aber jetzt, da ich weiß, wie ein Thymiaterion aussieht, bin ich mir sicher, dass es so eins war! Du musst doch wissen, wovon ich spreche«, drängelte ich.
Doch Bran schüttelte den Kopf. »Ich war ja nur einmal dort. Bei dem Besuch habe ich meine Mutter beigesetzt und mir nur einen oberflächlichen Überblick über die vorhandenen Bücher und Gegenstände verschafft. Fürs Betrachten der Gemälde blieb leider keine Zeit.«
Und dann fiel mir das Foto wieder ein. »Ich habe ein Bild mit meinem Handy gemacht«, setzte ich eifrig an, doch der finstere Ausdruck auf Brans Gesicht stoppte mich. »Es tut mir sehr leid«, sagte ich kleinlaut, »aber ich hatte nicht vor, es irgendjemandem zu zeigen.«
Er schien darüber nachzudenken, sah aber noch immer aufgebracht aus.
»Dann lass es uns mal anschauen«, forderte Papy.
Ich kramte in meiner Tasche und schon sank meine Stimmung. »Ich hab mein Handy nicht dabei. Das steckt im Koffer, zu Hause bei Mr Gold«, sagte ich. »Aber weil ich versucht habe, so viel wie möglich von der Wand draufzukriegen, bezweifle ich, dass die Schrift überhaupt lesbar ist. Ich stand sehr weit entfernt.«
»Erinnern Sie sich noch an weitere Details?«, fragte Mr Gold.
»Ja«, antwortete ich, schaute diesmal aber erst zu Bran, um mir die Erlaubnis abzuholen.
»Sprich nur, mein Kind«, sagte er mit einem Seufzer. »In einer Notsituation wie dieser kann ich es durchaus erlauben, dass derlei Geheimnisse preisgegeben werden.«
Durch seine Antwort ermutigt, fuhr ich fort: »Soweit ich weiß, war ein Flammenfinger dabei, genau wie mehrere Revenants. Es sah aus, als würden sie ein magisches Ritual durchführen. Jemand hielt eine Fackel, Feuer spielte also auch definitiv eine Rolle. Außerdem hatte einer der Revenants sich in den Arm geschnitten und ließ Blut in die Schale tropfen.«
»Ich glaube, ich habe hier ein paar Urnen mit einem ähnlichen Motiv«, sagte Mr Gold und rieb sich mal wieder nachdenklich das Kinn. »Es gibt ja so viele mystische Zeremonien, deren eigentlichen Zwecke heute niemand mehr kennt. Die Urne, die mir gerade in den Sinn gekommen ist, zeigt mehrere solcher Zeremonien, die mich seither stets beschäftigt haben.« Ganz freudig erregt schritt er voran, weg vom Thymiaterion zu einem Tisch, auf dem mehrere Dutzend steinerne Behälter standen, jede ungefähr so groß wie ein Briefkasten.
»Dies sind antike römische Urnen, in denen die Asche der Verstorbenen nach ihrer Kremierung aufbewahrt wurde«, erklärte er. »Diese
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