Von den Sternen gekuesst

Arme über den Rand der Schale, und zwar über die Beine der Tonfigur. Dann richtete er den Blick auf einen Punkt direkt über seinen Händen, ich nahm an, dass Vincent sich nun dort befand. Er blieb vielleicht eine Minute lang so stehen, dann forderte er Jules auf: »Bitte, jetzt Sie.«
    »Sagen Sie denn gar nichts?«, fragte Jules irritiert.
    »Was denn? Eine Zauberformel? Ich bin ein Heiler, kein Hexer«, grummelte Bran.
    »Gut, gut«, sagte Jules und klang nervös. Er streckte den Arm über die Schale und streifte mit einem gefährlich aussehenden Schnitzmesser darüber. Mit zusammengebissenen Zähnen schaute er zu mir.
    Ich hob die Augenbrauen.
    »Was ist?«, fragte er defensiv. »Es macht mir nichts aus, anstelle von jemand anderem verletzt zu werden, für gewöhnlich verstümmele ich mich aber doch nicht eigenhändig.«
    »Wenn du möchtest, kann auch ich für dich einspringen«, bot Mr   Gold an.
    Jules schüttelte den Kopf. »Vince, dafür schuldest du mir echt was«, sagte er. Dann atmete er zischend durch fest zusammengebissene Zähne ein, schnitt sich schnell und tief in den Unterarm und ließ das Blut über die Tongestalt laufen, während er eine bunte Tirade schönster Schimpfwörter hervorstieß.
    Ich kletterte auf die höchste Stufe der Trittleiter, die für mich an das Rauchgefäß geschoben worden war, lehnte mich über den Rand der Schale und blies in die Luft, als würde ich einen Luftkuss zum Mund des Tonmanns pusten.
    Du bist echt sexy, wenn du mich anatmest , hörte ich.
    Ich prustete los. »Hör auf, mich zum Lachen zu bringen, Vincent. Sonst hast du nachher keine Lunge, wenn du wiederauferstehst.« Sofern diese groteske Nummer überhaupt funktioniert , dachte ich. Ich zwang mich, den Pessimismus zu verdrängen, und blies erneut auf das Gesicht des Lehmvincents.
    »Und jetzt das Feuer«, sagte Mr   Gold. Jules und ich zogen uns zurück, während Papy die Fackel an die Tonfigur hielt.
    »Es ist wahrscheinlich ein schlechter Zeitpunkt, das zu erwähnen, aber nasser Ton ist nicht entzündlich«, murmelte Jules, gerade als die Fackel die blutgetränkte Masse berührte. Doch dann – plötzlich – schien sich die Flamme zu verselbstständigen und mein Großvater sprang rückwärts, während die Gestalt Feuer fing.
    »Es klappt«, keuchte ich, mein Herz raste und ich lehnte mich zurück, weg von den Flammen.
    »Ich sehe, wie sich seine Aura ausweitet und im Raum aufsteigt«, sagte Bran aufgeregt. »Jetzt muss sie nur noch herabsinken und in den Körper einfahren.« Er hielt die Hände so nah an das Feuer, wie er wagte.
    »Na los, Vincent. Mach schon«, raunte Jules und umschloss die Wunde, um den Blutfluss zu stoppen.
    Kate , hörte ich.
    »Ja, Vincent?«
    Irgendwas stimmt nicht.
    Die Angst in seiner Stimme ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. »Was?«
    Irgendwas läuft falsch. Ich habe das Gefühl, ich werde in lauter kleine Teilchen zerstäubt, die voneinander wegdriften. Das kann nicht richtig sein. Ich löse mich auf.
    »STOPP!«, schrie ich. »Irgendwas läuft schief!« Ich sprang mit einem Satz von der Leiter, schnappte mir den Wassereimer, auf dessen Bereitstellung Mr   Gold zum Schutz des Museums gepocht hatte, falls das Feuer außer Kontrolle geraten sollte. Ich kippte den Inhalt in die Schale und sofort erloschen die Flammen mit einem langen Zischen.
    »Vincent!«, schrie ich. »Bist du noch da?«
    »Was ist geschehen?«, fragte Bran, er wirkte verstört.
    »Vincent hat gesagt, dass er sich auflöst, dass er zerstäubt wird.«
    »Auflösung«, sagte Mr   Gold. Bran fuhr herum, um zumindest das Schema des Revenants zu erkennen. »Auflösung wandernder Seelen. Die vierte Fähigkeit der Flammenfinger. Sie haben gesagt, Sie haben noch nie davon gehört. Mir scheint, Sie haben gerade herausgefunden, wie es geht.«

W ovon zur Hölle sprechen Sie da? Was meinen Sie mit ›Auflösung wandernder Seelen‹?«, fragte ich, meine Stimme vor Panik ganz schrill. Ich zitterte und hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen. »Was ist mit Vincent passiert?«
    Papy erschien an meiner Seite und legte mir schützend den Arm um die Schultern.
    »Es gibt zwei Verfahren, mit denen man wandernden Seelen helfen kann«, hörte ich Mr   Golds Erklärung. »Das eine ist die Verkörperlichung, das andere die Auflösung. Nicht alle Revenants kommen damit klar, unsterblich zu sein. Heutzutage wählen manche sogar den Selbstmord als Ausweg. Wer einmal von guérisseurs gehört hat, weiß vermutlich auch,