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Von der Liebe verschlungen

Von der Liebe verschlungen

Titel: Von der Liebe verschlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delilah S. Dawson
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Aussehen einer aus Gletschereis geschnitzten Skulptur verlieh. Es war ein Geschenk meines Vaters zu meinem fünfzehnten Geburtstag gewesen, in jenen wunderschönen, fröhlichen Tagen, bevor Ravenna begonnen hatte, sich in unser Land und unsere Familie einzuschleichen.
    »Irgendwas gefunden?«, rief Keen von der Tür her.
    Ich ließ das Collier vorn in meinem Korsett verschwinden und rief zurück: »Nein, nichts.«
    Doch aus irgendeinem Grund war ich noch nicht bereit, den Koffer hinter mir zu lassen. Er war als Gefängnis benutzt worden, aber er war auch der einzige Hinweis auf meine Entführung. Ich warf ihn um, um ihn näher zu inspizieren. Abgewetztes hellbraunes altes Leder, dick und billig genäht. Auf einer Seite die gekrümmte Klappe, die ich mit meinen Klauen aufgerissen hatte. Auf der anderen Seite eine Menge merkwürdiger Aufkleber mit fremdartigen Namen. Ich musste blinzeln, um sie zu lesen: Stockhelm. Konstantinobel. Kyro. Orte, die ich in meinen Büchern und auf dem kunstvollen, mit Edelsteinen verzierten Globus im Arbeitszimmer meines Vaters gesehen hatte. Offenbar war ich an diesen fernen Orten gewesen, ohnmächtig und am Rande des Todes. Ich hatte die Berge versäumt, die Sonnenaufgänge und diese Abscheulichkeiten, Kamele genannt, die Blud spuckten, wenn sie wütend waren. So viel Zeit, so viele Gelegenheiten, für immer verloren.
    Und ganz oben war noch ein Aufkleber, gerade so abgerissen, dass der Name des Empfängers unleserlich war. Die verbleibenden Wörter waren in dunkelroter Tinte geschrieben; ich las »-parator, -uby Lane, -ontown, -land.«
    Man hatte mich verschickt, wer auch immer »man« war. Verschickt wie ein Gepäckstück. Noch weniger als Vieh. Weggeworfen in eine Kiste und weitergereicht, von Hand zu Hand, ohne jemals meinen Zielort zu erreichen. Doch jetzt hatte ich immerhin einen Anhaltspunkt dafür, wohin ich geschickt werden sollte. Und bis ich den Grund dafür erfuhr, würde ich London nicht verlassen.

6.
    I ch war so damit beschäftigt, mir einen Weg durch die Straßen von London zu bahnen, dass ich kaum Zeit hatte, Details in all dem Chaos zu erkennen. Bei gesenktem Kopf und im Schutz des Schultertuches sah ich die meiste Zeit über nur Keens Rücken und die Tasche mit meinem Haar darin, die gegen ihre schmuddelige Jacke schlug. Immer, wenn ich den Blick hob und versuchte, mir die Umgebung einzuprägen – die Geschäfte, den Schmutz auf den Straßen, die schmackhaften Kinder, die mit unschuldigem Lächeln und Händen voll Veilchen an meinen Röcken zupften –, verlor ich beinahe meine Führerin. Also konzentrierte ich mich stattdessen auf die Stelle zwischen ihren Schulterblättern und dachte daran, wie angenehm es doch wäre, dort ein Messer hineinzustoßen.
    Sie bog in eine Gasse ein, und ich folgte ihr. Wir stiegen auf Zehenspitzen über Haufen verrotteten Pinkiefutters, vorbei an Betrunkenen und leichten Mädchen. Wir durchquerten einen Bau der größten Bludlemminge, die ich je gesehen hatte, und sie fauchten mich mit gesträubtem Fell an. Schließlich hielt Keen eine unscheinbare Tür auf, und ich trat in die Dunkelheit.
    »Ihr Schneegötter, ich habe das Elend satt«, flüsterte ich. Wir befanden uns in einem Vorzimmer, ein armseliger kleiner Wandschrank, kaum groß genug für uns beide und die riesige schwarze Katze, die uns offenbar den ganzen Weg vom Seven Scars hierher gefolgt war, Bludlemminge noch eins. So langsam verstand ich, warum man ihn Tommy Pain nannte, denn er war wirklich wie eine Plage, die man nicht loswurde.
    Keen klopfte an die innere Tür, und auf der anderen Seite klickten Schlösser auf.
    »Wurde auch Zeit«, hörte ich Casper durch den Spalt sagen, bevor Keen mich hindurchschob.
    Der Raum dahinter war ganz und gar nicht das, was ich angesichts des trostlosen Vorzimmers und Caspers Zimmer unter dem Dach erwartet hatte. Ich erblickte leuchtend rote Wände, eine lachsfarbene Decke und einen Holzfußboden, der mit riesigen Wirbeln bemalt war. Nach all der abstoßenden Eintönigkeit, die ich bisher in London gesehen hatte, schmerzten mir beinahe die Augen von all der Pracht. Vielleicht waren diese Leute doch nicht so deprimierend und abgestumpft, wie ich geglaubt hatte.
    »Also ’ier ist die kleine princesse «, erklang eine nachdenkliche, kultivierte Frauenstimme mit frankonischem Akzent.
    Die hoch gewachsene Frau an Caspers Seite war größtenteils unverhüllt, und ihre Haut schimmerte in roten, tief orangenen und violetten Farbtönen wie ein

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