Von der Nacht verzaubert
stattdessen ihre Hand und drückte sie aufmunternd. Sie lächelte und sagte dann: »Ich sollte langsam nach Hause gehen. Wegen Charles. Danke für das Gespräch. Ich kann dir gar nicht sagen, wie schön es ist, mal Zeit mit einem Mädchen zu verbringen.«
Mir ging es da nicht anders. Ich hatte in Paris noch keine Freunde gefunden. Und selbst wenn das bedeutete, jemanden zu treffen, der Teil von Vincents Familie war, so musste ich dennoch zugeben, dass ich Charlottes Gesellschaft mochte. »Dann wiederholen wir das bald«, versprach ich.
Wenn du mit Charlotte befreundet bist, heißt das zwangsläufig, dass du Vincent begegnen wirst, meldete sich die nervige, leise Stimme in meinem Kopf. Ach, halt die Klappe, herrschte ich sie an und fragte mich, ob der Schmerz in meinem Herzen je nachlassen würde. Das muss er einfach, beschloss ich. Je mehr Zeit ich ohne Vincent verbrachte, desto besser würde es mir gehen. Da war ich mir sicher.
A ber anstatt besser, ging es mir in der folgenden Woche immer schlechter. Am Freitag überfiel mich eine dumpfe Verzweiflung, weil sich ein schier endlos langes Wochenende vor mir erstreckte, an dem ich nichts, aber auch rein gar nichts geplant hatte.
Mittags schaltete ich mein Handy ein, um die üblichen Nachrichten von Georgia zu lesen.
Hast du dieses unglaubliche Nuttenoutfit von Du-weißt-schon-wem gesehen?
Rechnungswesen ist scheiße.
Geh heut Abend aus, kommste mit?
Ich zögerte. Dann zwang ich mich, auf ihre letzte SMS zu antworten:
Wohin?
Sie schrieb sofort zurück:
Sag ich dir nach der Schule.
Um vier Uhr erwartete mich eine ungläubige Georgia am Schultor. »Kann nicht sein, Katie-Bean. Du kommst nicht wirklich mit, oder?«
»Kommt drauf an«, sagte ich unbekümmert, um nicht so verzweifelt zu klingen, wie ich mich fühlte. »Wohin gehst du denn?«
»Zu einer Party in einem total angesagten Gewölbekeller. Der Klub-Besitzer ist ein sehr guter Freund von mir.« Sie lächelte verschlagen. Meine Schwester, die unverbesserliche Flirtqueen. »Im Ernst, das ist ziemlich cool da. Früher war das mal ein Weinkeller, jetzt ist es ein labyrinthartiger Klub, der unter mehreren Gebäuden in der Nähe der Metrostation Oberkampf verläuft. Da wimmelt es nur so von Musikern und Künstlern. Es wird dir gefallen.«
Obwohl Ausgehen nicht gerade zu meinen Lieblingsbeschäftigungen gehörte, war das mein einziges Freizeitangebot für dieses Wochenende. Für den ganzen Monat sogar, wenn ich ehrlich sein sollte. »Ich komm mit«, sagte ich. »Wann ziehen wir los?«
»So um neun.«
Wir fuhren mit dem Bus in die Stadt und stiegen dort in die Metro um. Als wir in unsere Straße bogen, sagte ich zu Georgia: »Ich will nicht gleich nach Hause. Ich geh noch ein bisschen spazieren. Fahr aber nicht ohne mich los.«
»Dann such ich dir schon mal was zum Anziehen raus«, erwiderte sie mit einem breiten Lächeln und ging weiter nach Hause. Ich schlug die andere Richtung ein, am geschäftigen Boulevard Saint-Germain vorbei, um durch die kleinen, verwinkelten Straßen zu streifen, die in der Nähe des Flusses verliefen.
An einer belebten Straßenecke befand sich ein Café mit einem großen Terrassenbereich. Dorthin hatte meine Großmutter mich als Kind oft mitgenommen, um Tarte Tatin zu essen. Das ist eine Apfeltarte, die verkehrt herum gebacken, aber richtig herum serviert wird, sodass die Äpfel sich in einer dicken Karamellschicht befinden. Das Café hieß La Palette, womit die Mischpalette von Malern gemeint war, denn seinen Namen hatte es vor vielen Jahren bekommen, als es noch das Stammlokal vieler ortsansässiger Maler und Bildhauer war. Es war zu weit weg von zu Hause, um mein Stammcafé zu sein, aber gelegentlich kam ich sehr gern hierher.
Ein eisiger Wind wehte durch die Straßen und die normalerweise schwer umkämpften Terrassenplätze waren fast leer. Ich drängte mich durch die Eingangstür in das warme Café, in dem es ganz wunderbar duftete. Ein Kellner hatte mich sofort erblickt und deutete auf einen leeren Tisch, der sich in einer kleinen Nische direkt hinter der Eingangstür versteckte. Perfekt. Genau das hatte ich gesucht.
Ich setzte mich, verstaute meine Tasche unter dem Tisch und schaute mich im Café um, während ich darauf wartete, dass der Kellner wieder zurückkam. Eine Gruppe Studenten unterhielt sich lautstark in einer Ecke. Ein paar Geschäftsleute beugten sich über ihre Akten. Eine auffallend schöne Frau, vermutlich Ende zwanzig, saß allein an einem Tisch. Ich
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