Von der Nacht verzaubert
und begrüßen ein gesundes Maß an Offenheit und Ehrlichkeit in diesem Hause. Ihre Bemerkungen sind also nicht unwillkommen. Ich bin mir sicher, Georgia wird sich bei Ihnen entschuldigen, sobald sie sich beruhigt hat.«
»Verlass dich besser nicht drauf«, flüsterte ich ihm zu.
Darauf nickte Vincent grimmig. »Ich sollte mich auf den Weg machen«, sagte er. »Ich bin mir sicher, dass Sie alle morgen einen langen Tag vor sich haben.«
»Ich begleite dich noch vor die Tür«, sagte ich, weil ich ihn natürlich in die Mangel nehmen wollte, sobald wir außer Hörweite waren.
Papy holte Vincents Mantel. Nachdem er sich bei meinen Großeltern für den Abend bedankt hatte, trat Vincent in den Hausflur. Ich folgte ihm, meinen Mantel in der Hand, und schloss die Tür hinter uns.
»Was ...«, fing ich an.
Vincent legte mir einen Finger auf die Lippen. Ein angespanntes Schweigen lag zwischen uns, bis wir auf der Straße angekommen waren. Als die Tür hinter uns zufiel, fasste er mich bei den Schultern und sah mir angespannt in die Augen. »Deine Schwester ist in Gefahr.«
Angst löste meine Verwirrung ab. »Wovon sprichst du? Was stimmt nicht mit diesem Lucien?«
»Er ist mein Erzfeind. Er ist der Anführer der Numa hier in Paris.«
Ich hatte das Gefühl, als hätte mich jemand hochgehoben und gegen eine Wand geschleudert. »Bist du sicher, dass wir denselben Lucien meinen?«, fragte ich, weil ich das nicht glauben wollte. »Als ich ihn getroffen habe ...«
»Du hast ihn getroffen?« Vincent schluckte schwer. »Wo?«
»In diesem Klub, wo ich mit Georgia tanzen war.«
»Da, wo du Charles gesehen hast?«
»Ja, Charles hat sich sogar mit ihm unterhalten, als ich gefahren bin. Ich verstehe nicht ...«
»Oh, nein. Das ist ja furchtbar«, sagte Vincent und schloss seine Augen.
»Vincent, sag mir, was los ist«, drängte ich. Ein schlechtes Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit. Wenn Lucien ein Monster war, was hieß das dann für meine Schwester? Es schüttelte mich, weil ich an den Kuss denken musste, den sie einander gegeben hatten, als ich sie im Klub gesehen hatte. Sie wusste offenbar nichts von seinem dunklen Geheimnis. Mit Georgias Menschenkenntnis war es nicht weit her. Meine Mutter hatte mal klagend geäußert, nachdem einer von Georgias Freunden wegen Diebstahls verhaftet worden war: »Sie sieht nie das Schlechte in anderen Menschen, sondern vertraut ihnen blind. Deine Schwester ist nicht dumm, aber sie besitzt einfach nicht das geringste bisschen Intuition.« Diesmal könnte dieser Fakt sie das Leben kosten, dachte ich beklommen.
Vincent kramte sein Handy aus der Tasche. »Jean-Baptiste? Charles ist bei Lucien. Ja, ich bin mir sicher. ... Gut, ich bin gleich da.«
»Bitte, sprich doch mit mir!«, flehte ich ihn an.
»Ich muss sofort nach Hause. Kannst du mitkommen?«
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. Daheim wartete die schwere Aufgabe auf mich, Schadensbegrenzung zu betreiben.
»Ich muss los«, sagte er.
»Aber ich begleite dich noch bis zu dir«, beharrte ich, »und du kannst mir auf dem Weg erzählen, was los ist.«
»In Ordnung«, sagte er. Hand in Hand machten wir uns auf den Weg. »Kate, du weißt, dass es in jeder Geschichte einen Bösewicht gibt, oder?«
»Ich schätze schon.«
»Lucien ist der Bösewicht in meiner Geschichte.«
»Was meinst du damit? Deine Geschichte?«, fragte ich beunruhigt. »Geht es nur darum, dass ihr auf verschiedenen Seiten kämpft? Du für das Gute, er für das Böse?«
Vincent schüttelte den Kopf. »Nein. Wir kämpfen direkt gegeneinander. Und das schon sehr lange.«
»Moment mal, heißt das ...«, langsam setzten sich die Puzzleteile in meinem Kopf zusammen. »Heißt das, er ist dieser mysteriöse Mann, über den ihr immer gesprochen habt?« Ich dachte kurz nach. »Hast du Lucien im Village Saint-Paul gesehen? Und hat Jules euch vor ihm gewarnt, kurz bevor Ambrose verletzt wurde?«
Vincent nickte.
»Was hat er denn verbrochen?«
»Im Zweiten Weltkrieg gehörte er der Milice française an, der französischen Miliz, einer paramilitärischen Organisation. Die von den Deutschen beeinflusste französische Regierung hatte sie ins Leben gerufen, um gegen die Résistance vorzugehen.«
»Die Vichy-Regierung?«
Vincent nickte. »Neben der Hinrichtung und Ermordung von Mitgliedern der Résistance half die Miliz auch dabei, die Juden zur Deportation zusammenzutreiben. Die Mitglieder waren berüchtigt für ihre Foltermethoden. Jeder, der von ihnen gefangen
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