Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden
bekennt, dass sie unter dem Tod ihres Vaters leidet. Warum sonst hat sie 20 Kilo zugenommen? Dass Emma sich zwischen der Eifel und Singapur entscheidet und Alex von seinem Stuhl herunterfällt. Ich will eine Reaktion!
»Ist doch schon auffällig, wie viele eurer Geschichten auf dem Dorf spielen. Warum ist das so?«
Während die Gruppe noch über meine Frage nachdenkt, gebe ich mir selbst die Antwort. »Kann es sein, dass ihr euch aufs Dorf flüchtet …« Scheiße, flüchten ist nicht gut, das ist zu wertend, aber jetzt ist es heraus. »Kann es sein, dass ihr euch aufs Dorf flüchtet, weil es euch in der globalisierten Welt zu ungemütlich ist? Weil ihr wisst, dass höchstens ein Einziger in diesem Raum Karriere machen wird? Weil euer erster Film schon euer letzter sein kann? Weil ihr irgendwann«, und jetzt zitiere ich den »Ayatollah«, »den Indern die Swimmingpools saubermachen dürft?!«
»Also, ich kann mit dieser 68er-Kacke nichts anfangen«, sagt Alex und macht sich noch länger auf seinem Stuhl.
»Ich auch nicht«, pflichtet Emma ihm bei. »Wir hatten am Gymnasium einen Deutschlehrer, der traktierte uns immer mit den Gedichten von einem bärtigen Freak aus Venezuela …«
»Nicaragua«, korrigiere ich.
»Nicaragua«, wiederholt Emma genervt. »Der immer von der Sexualität der Völker …«
»Zärtlichkeit der Völker.«
Emma verdreht die Augen. »Genau das meine ich. Man kann es euch 68er-Typen nie Recht machen.«
Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass mir die Diskussion entglitt. Was hatte ich mit 68 am Hut? Als in Berlin die Studenten auf die Straße gingen, war ich sieben Jahre alt. Da
interessierte ich mich für das »Krokodil« von Märklin statt für den Vietnamkrieg. Mein politisches Erweckungserlebnis war nicht der Mord an Benno Ohnesorg, sondern ein Wasserwerfer, der mir am Bauzaun von Wackersdorf die Jeans vom Hintern riss, wohin ich übrigens nur wegen Martina mitgefahren war. Ich hatte auch keine klammheimliche Freude, als der Arbeitgeber-Präsident von der RAF hingerichtet wurde. Wobei ich die RAF vor allem deshalb ablehnte, weil ich in diesen hysterischen Zeiten mit meinem Mofa ständig von der Polizei angehalten wurde. Als ob Terroristen mit einem unbeleuchteten Nummernschild und kaputtem Auspuff unterwegs wären. Ich verstand kein Wort von den Maschinengewehrsalven, die Rudi Dutschke mit heiserer Stimme in die Menge feuerte. Ich verstand auch nicht, warum Studentinnen im Hörsaal ihre BHs auszogen, wobei ich auf diese Weise zum ersten Mal einen nackten Busen sah. Ich hatte auch keinen Sex mit wechselnden Geschlechtspartnerinnen, jedenfalls nicht bis zu der Sache mit Dorata. Ich habe auch nicht den Staat bekämpft, um später in seine Dienste zu treten wie unser Rektor. Der war früher ganz vorne mit dabei, wenn es galt, eine Vorlesung zu sprengen. Heute ruft er die Polizei, wenn unsere Studenten auf der Abschlussparty rauchen.
Ich bin kein 68er, ich bin ein … Keine Ahnung, was ich eigentlich bin. Für die Generation X bin ich zu alt, für Love & Peace war ich noch zu jung. Mein Vater würde ohne zu zögern sagen, ich sei ein »Roter«. Wenn damit gemeint ist, dass ich gegen die Privatisierung der Bundesbahn und für die Stillegung der Kernkraftwerke bin, kann ich damit leben. Martina findet, dass ich ein »mieses Arschloch« bin. Ich finde das nicht ganz fair, aber ich gewöhne mich langsam daran. Meine Tochter hält mich für einen Träumer, wobei sie damit eigentlich »Spinner« meint. Holger drückt sich da schon klarer aus: Er habe auch mal revolutionäre Ideen gehabt, als er noch jung war – Holger ist 26! Aber am Ende liefe das immer auf dasselbe hinaus: Die Unterdrückten kommen an die Macht
und fangen an, selbst zu unterdrücken. David wiederum hält mich für einen Opportunisten, der mit der Utopie groß wurde, forever young zu sein, und nun mit dem Problem konfrontiert ist, nicht alt werden zu können. Der immer noch von der Revolution träumt, aber sich längst an die Macht der Verhältnisse angepasst hat. Der geheiratet hat wegen der Kinder und eine Eigentumswohnung gekauft hat wegen der Steuern. Einer, der Biodiesel tankt, solange der nicht teurer ist als normales Benzin. Der kritisch ist, aber auch pragmatisch, oppositionell, solange es nichts kostet, und solidarisch, wenn es sich auszahlt.
Das klingt alles nicht wirklich positiv, eher nach Anpassung als nach Auflehnung. Aber muss man sich mit den Verhältnissen einverstanden erklären, nur weil man sie nicht
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