Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden
weil
der Zug der Alten in der Steilwand rasch an Höhe gewann und Steine löste, die auf mich herunterschossen. Ein unbewusster Tötungswunsch, mit dem die Alten ihr schlechtes Gewissen abwehrten, immer älter zu werden? Würde ich später – wobei das gar nicht mehr so lange dauern würde – auch wie diese gierigen Greise die letzten Tropfen aus dem Glas des Lebens saugen? Würde ich auch solch ein Vampir werden, der eigentlich längst tot ist, aber nachts immer noch umherirrt und sich den Lebenssaft der Jüngeren einverleibt? Oder hätte ich Klasse, würde mich vor dem Überschreiten des Verfallsdatums dezent aus dem öffentlichen Leben zurückziehen, um der Welt nicht länger den Anblick meines welken Körpers zuzumuten, und zuhause vor dem Fernseher auf den Tod warten? Mit der Bitte, das Fußballspiel noch zu Ende schauen zu dürfen, damit ich mit dem beruhigenden Wissen abtreten könnte, dass die Bayern in der ersten Runde des DFB-Pokals gegen einen Amateurverein rausgeflogen sind. Dann würde ich meinen Hut nehmen und leise Servus sagen.
Michael empfing uns in einem AC/DC -T-Shirt und trug dazu kurze Hosen wie sein Idol Angus Young. Um das starre Korsett unserer Treffen aufzubrechen, hatte Michael vorgeschlagen, uns im Probenraum seiner Band zu treffen. Vielleicht, so seine Theorie, lag es daran, dass sich der jeweilige Gastgeber in seinen eigenen vier Wänden unter Druck gesetzt fühlte, dass es bei den bisherigen Treffen jedes Mal Ärger gegeben hatte. Außerdem würde der Probenraum eine Menge über ihn erzählen, der sei sozusagen sein Blitzlicht .
Da Michael noch Besuch von einem Plattensammler hatte, der ihm ein äußerst seltenes Bootleg-Album eines Auftritts von AC/DC in Korea verkaufen wollte, hinter dem er jahrelang her gewesen war, bat er mich, ihm unten im Foyer netterweise einen Kaffee zu holen, und gab mir zwei 50-Cent-Stücke, damit ich mir auch einen am Automaten ziehen konnte. So fuhr ich mit dem Lastenaufzug wieder
ins Erdgeschoss des ehemaligen Luftschutzbunkers, den die Stadt München Bands als Probenraum zur Verfügung stellte, während ich an meine Mutter denken musste, die sich als Kind hier vor den Fliegerangriffen der Alliierten versteckt hatte. Jetzt probten hinter bombensicherem Beton drei Dutzend Bands wie Titties & Beer .
Im Foyer traf ich Ingrid und Susanne, die sich hier nicht richtig wohlfühlten. Ingrid wegen ihres grauen Hosenanzugs – sie kam direkt von einem Meeting mit ihrem Vorstand. Und Susanne, weil ein paar schwitzende Typen, die ihre Anlage in einen VW-Bus luden, sie die ganze Zeit anstarrten. Ich zog für die beiden Frauen auch einen Kaffee und schlug vor, hier auf Beate zu warten, aber die hatte Susanne angerufen und sich entschuldigt: Weil eine Kollegin ausgefallen war, musste Beate Überstunden im OP schieben.
So fuhren wir zusammen mit vier Jungs, die alle die gleichen großen Hornbrillen trugen, im Lastenaufzug wieder nach oben.
»Seid ihr auch eine Band?« fragte Susanne auf ihre mütterliche Art.
»Wonach sieht’s denn aus?!«
»Und wo sind eure Instrumente?«
Die Vier hielten synchron die Umhängetaschen mit ihren Laptops hoch, als hätten sie das geübt.
»Keine Gitarren?« schaltete sich Ingrid in das Gespräch ein.
Die Vier warfen skeptische Blicke über ihre Hornbrillen. »Gitarren sind so was von Sixties!«
Die vier Hornbrillen stiegen mit uns aus und verschwanden hinter einer Stahltür, auf der Nur für deutsche Volksgenossen stand.
Michael hatte inzwischen den Sammler verabschiedet und schlug vor, uns ein paar Takes von dem kostbaren Album vorzuspielen, das er gerade für viel Geld erworben hatte. Aber Ingrid erklärte, sie würde nicht auf Rock’n’Roll stehen.
»Rock’n’Roll?!« Michael verschluckte sich an seinem Kaffee.
»Das ist Elvis, Schmalztolle, Petticoats, Mädchen, die in Ohnmacht fallen …«
»Schon klar«, unterbrach ihn Ingrid. »Auf jeden Fall Männermusik, in der Frauen nur als Objekte vorkommen.«
Geht das schon wieder los?! dachte ich. Wir hatten uns bisher noch kein einziges Mal darüber unterhalten, wie jeder von uns in Würde seinen 50. Geburtstag feiern könnte. Dabei war das doch der Grund, warum wir uns trafen. Stattdessen machten wir uns gegenseitig für die Enttäuschungen unseres Lebens verantwortlich.
»Und was ist mit Madonna? Lady Gaga? Rihanna?« ließ Michael den ehemaligen Lehrer raushängen. »Hast du dir mal Videos von denen angeschaut? Da wirst du blind. Aber kein böser Macho zwingt diese
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