Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden

Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden

Titel: Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Heinzen
Vom Netzwerk:
verpasste Lebenschancen, geplatzte Träume, missglückte Selbstmordversuche, die sich jederzeit wiederholen konnten. Düstere Geschichten, die in diesen Räumen umherirrten wie Gespenster in einer alten Burg. All diesen Gespenstern ging es jetzt an den Kragen, sie wurden aus den Ecken gescheucht und ans Licht gezerrt von dem Lachen, das aus Martina herausbrach, bis sie Tränen in den Augen hatte.
    Es reichte! Ich war bereit gewesen, mich vor Martina zum Affen zu machen, aber sich selbst zu erniedrigen ist etwas ganz anderes, als zum Gespött zu werden. Wenn das der Preis sein sollte für eine umfassende Amnestie, dann würde ich lieber weiter mit dieser Fußfessel herumlaufen, auf der Ehebrecher stand, geächtet von meinen Kindern, verachtet von meiner Frau. Dann wäre es eben vorbei mit uns. War doch ein guter Zeitpunkt, ein paar Dinge zu ändern, wo sich gerade alles änderte, weil ich 50 wurde.
    Vielleicht war Ingrids Offerte gar nicht einer Wette geschuldet, sondern ein Testballon. Okay, ich würde ungern auf dieses Angebot zurückkommen müssen, aber es gab einen Notfallplan. Auch Dorata war keine Option für die nächsten 28 Jahre und 9 Monate, die mir statistisch noch blieben. Aber dass so etwas möglich war, trotz meines Alters, ließ
doch hoffen. Warum also saß ich hier im Büßerhemd und ließ mir Vorwürfe machen, während Martina nicht die geringsten Gewissensbisse zu haben schien, mit Sammy zusammen zu sein? Als ob mein Betrug die Legitimation wäre, sich auch nicht mehr an die Regeln halten zu müssen. Warum versuchte ich hier überhaupt noch etwas zu retten? Weil wir trotz unserer ganzen großmäuligen Ankündigungen von freier Liebe und wildem Sex nicht besser waren als unsere Eltern? Im Gegenteil: Wir waren viel schlechter, weil unsere Eltern ihren Job wenigstens noch ernst nahmen, auch wenn sie unter ihren zementierten Rollen gelitten hatten. Wir waren genauso scheintote Gewohnheitstiere, nicht besser als die ganzen Spießer, die wir immer verachtet hatten, weil wir uns nicht eingestehen konnten, selbst Spießer zu sein.
    »Tut mir leid, Tommy!« entschuldigte sich Martina, während letzte Lachsalven aus ihr herausbrachen, wie aus einer leeren Zahnpastatube, aus der immer noch etwas herauskommt, wenn man lange genug drückt. »Aber du bist manchmal echt komisch.« Sie legte ihre Hand auf meine Hand. Eine vertraute Geste. So vertraut, dass ich vergessen hatte, wie viel sie mir bedeutete. Und Martina hatte in diesem Moment vergessen, dass sie eigentlich wütend auf mich war.
    Vergessen , schoss es mir durch den Kopf. Warum vergaßen wir nicht einfach Dorata und Sammy? Löschten die letzten Wochen aus unserem Gedächtnis. Wie man bei einem Computerabsturz durch Drücken von F5 einen Rechner wieder in den Lieferzustand zurückversetzen kann, könnten wir dasselbe mit unserer Ehe tun …
    »Gleich kommt der nächste Klient«, machte Martina meine Hoffnung auf ein Reset zunichte.
    »Schick ihn weg!« erwiderte ich, wohl wissend, dass das nicht ging. Warum war ich nur auf die dumme Idee dieses Besuches gekommen, wo ich es nicht in der Hand hatte, über einen wirkungsvollen Abgang selbst zu bestimmen.
    Es klingelte an der Tür.
    »Ich brauche eine Therapie«, versuchte ich meinen Rauswurf
aufzuschieben und hielt Martina meine Krankenkassenkarte hin. Das war nicht so richtig ernst gemeint, aber vielleicht würde es funktionieren.
    Martina zögerte keine Sekunde und ging nicht auf dieses Spielchen ein. »Ich kann dich nicht behandeln.«
    »Weil ich ein hoffnungsloser Fall bin?«
    »Familienmitglieder darf man nicht behandeln, das verstößt gegen das Abstinenzgebot. Außerdem hast du ja deine Selbsthilfegruppe.« Martina erhob sich, die Audienz war beendet. Ich stand auch auf, was mir noch nie im Leben so schwer gefallen war. Martina begleitete mich zur Tür, wo wir uns schweigend anschauten, während es wieder klingelte – länger und fordernder.
    »Wenn du den Wagen brauchst …«
    »Danke, ich melde mich.«
    Und wieder geschah an diesem seltsamen Nachmittag etwas zum ersten Mal, wie vorhin, als man mir einen Platz in der U-Bahn angeboten hatte: Wir gaben uns zum Abschied die Hand, statt uns wie sonst immer zu küssen. Dann verließ ich die Praxis. Die Klientin, die vor dem Haus wartete, musterte mich und versuchte herauszufinden, welche Störung ich hatte. Dann schlenderte ich durch den Englischen Garten.
    Ich war diesen Weg hunderte Male gegangen, meistens mit Martina, wenn ich sie von der Arbeit

Weitere Kostenlose Bücher