Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden
abholte. Wir redeten oft gleichzeitig, es gab immer so viel zu erzählen. Diesmal war es anders. Es war, als würde die Szene – wenn der Held der Romantic Comedy im Regen durch den Central Park rennt – rückwärts laufen, so schwer fiel mir das Gehen. Und während normalerweise 24 Bilder pro Sekunde durch den Projektor rattern, wäre der Film gerissen und die Spule würde sich um sich selbst drehen.
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»You need coolin’, baby, I’m not foolin’. I’m gonna send you back to schoolin’. Way down inside, honey, you need it. I’m gonna give you my love. I’m gonna give you my love. Wanna whole lotta love?«
Ohne es zu merken, war ich süchtig geworden. Nicht nach Alkohol, das war ich längst. Ich trank viel zu viel, seitdem Martina ausgezogen war. Ich war süchtig geworden nach meiner Selbsthilfegruppe und lebte nur noch für die Treffen. Die Zeit dazwischen betrachtete ich als verloren, denn ich war unfähig, mit mir etwas anzufangen, obwohl es eigentlich an der Zeit war, den Tag zu nutzen, da meine Tage gezählt waren. Ich machte weiter meine Arbeit, erklärte den Studenten, warum ein schwacher Antagonist die Hauptfigur schwächt und umgekehrt, kaufte ein, räumte auf und rasierte mich jeden Morgen. Ich ließ mich nicht gehen. Aber ich fühlte mich dabei wie ein Flugzeug, das nur weiterflog, weil der Autopilot es steuerte, während der Captain tot im Sitz hing.
Um auf andere Gedanken zu kommen, fuhr ich mit dem Auto nach Garmisch und machte eine Wanderung durch das wildromantische Höllental. Ein Ausflug, den ich schnell bereuen sollte. Nach einer Brotzeit auf der Höllentalangerhütte war ich ein paar Minuten Richtung Zugspitze unterwegs, als mich ein Pfiff im Rücken traf und aufforderte, den Pfad freizugeben. Ich hatte gerade noch Zeit, zur Seite zu springen, als ein seltsamer Zug an mir vorbeirollte: Angeführt von einem grimmig entschlossenen Bergführer, der es zu eilig hatte, mein »Grüß Gott« zu erwidern, zogen ein Dutzend alte Leute … Was rede ich da? Es kam mir so vor, als sei das Jüngste Gericht angebrochen, die Gräber hätten sich geöffnet und die Toten seien wiederauferstanden. Aber nicht, um vor Gottes Angesicht zu treten, sondern um Deutschlands höchsten Berg zu bezwingen. Eine 6-Stunden-Tour, die ich mir inzwischen nicht mehr zutraute.
Dem Bergführer folgte ein Mann, dem man mit Pflaster einen Plastikschlauch an der Nase befestigt hatte, wie
man das aus Krankenhaus-Serien kennt. Der Schlauch verschwand in einem Rucksack, worin vermutlich die Herz-Lungen-Maschine steckte. Der nächste Wanderer ließ es sich trotz einer massiven Schuppenflechte nicht nehmen, seine nackten Beine zu zeigen, die die Farbe einer Tiefkühlpizza im nichtaufgetauten Zustand hatten. Am linken Knie trug der Mann eine Manschette aus Plastik, die beim Gehen Geräusche von sich gab, wie wenn man lebende Hummer in kochendes Wasser wirft. Es folgte ein Mann, der eine ähnliche Konstruktion auf dem Kopf trug wie Hannibal Lecter in Das Schweigen der Lämmer , die diesen daran hindern sollte, Menschen zu essen. Offenbar wurden Teile des Gehirns nicht mehr mit Sauerstoff versorgt, denn es schien dem Mann nichts auszumachen, dass die vier Schrauben, an denen der Apparat hing, direkt in seinen Schädel gedreht worden waren. Mit ungläubigem Staunen betrachtete ich diese Prozession aller erdenklichen Altersgebrechen, die der Liebe Gott sich ausgedacht hat, um uns Menschen den Abschied von unserem irdischen Dasein zu erleichtern. Das Ende bildete eine Frau, die so viel Wasser in den Beinen hatte, dass ich es bei jedem Schritt glucksen hörte. Was sie aber nicht daran hinderte, alles mit einer Videokamera festzuhalten. Um eine Klage gegen den Reiseveranstalter anzustrengen, der diesen armen Alten das hier antat?
Während der Geisterzug an mir vorbeiratterte und eine Felswand in Angriff nahm, vor der ich längst kapituliert hatte, begriff ich, dass kein geldgeiler Heimleiter die bedauernswerten Alten auf diesen Höllentrip geschickt hatte, um während ihrer Abwesenheit die Betten neu zu belegen und bei der Pflegeversicherung doppelt zu kassieren. Nein, die Alten waren aus freien Stücken unterwegs, um dem Tod zu zeigen, dass er sich noch ein wenig gedulden musste. Was gar nicht nötig war, denn der Tod würde den Teufel tun, sich in dieses Gelände zu begeben, aus Angst, sich den Hals zu brechen.
Werde ich irgendwann auch so drauf sein? fragte ich mich, während ich eine Rast einlegte, die nicht lange dauerte,
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