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Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden

Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden

Titel: Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Heinzen
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Hoffnungen, von meiner Musik leben zu können. Nicht die große Rock-Karriere, nicht der Madison Square Garden, aber die Muffathalle bekamen wir damals locker voll. Lag unter anderem an unserer Sängerin. Gena hatte in Paris Modedesign studiert. Als erstes änderte sie unser Outfit und steckte uns in Anzüge. Sie selbst trug auf der Bühne immer ein rückenfreies, schwarzes Abendkleid. Das war schon ziemlich revolutionär. Damals bedeutete Metal ungepflegte Typen in speckigen Jeans. Nach ein paar Auftritten waren wir zusammen, teilten Bett und Bühne. Und wir komponierten Songs. War nie meine Stärke, aber mit Gena lief das irgendwie. Ich klimperte einen Riff auf der Gitarre, und Gena schüttelte die Lyrics aus dem Ärmel. Das gab natürlich Ärger mit den anderen Musikern. Ist nie gut, wenn es eine Beziehung in der Band gibt. Hat auch die Beatles kaputtgemacht. Wir trennten uns von der Band und arbeiteten mit Studiomusikern an unserem ersten Album. Es gab Interesse bei einer Plattenfirma, kein Major-Label, aber auch nicht so ein Selbstausbeuterladen, wo man seine Platten nach dem Konzert aus dem Rucksack verkauft. Die Firma saß in New York. Sie ließen uns einfliegen, wir stiegen im Chelsea ab. Mein Gott, das Chelsea! Davon hatte ich immer geträumt. Hier wohnten Janis Joplin, Jimi Hendrix und Bob Dylan. In Zimmer 100 hatte Sid Vicious, Bassist der Sex Pistols , im Drogenrausch seine Freundin erstochen. Das Chelsea ist wie ein Adventskalender: Hinter jedem Türchen, das du öffnest, versteckt sich ein Star. Und jetzt waren wir hier! Aber anstatt mit mir auf dem Bett zu liegen, einen Joint zu rauchen und dem Sound der Stadt zu lauschen, der durch das offene Fenster drang, wollte Gena einen neuen Song aufnehmen. Wozu brauchten wir einen neuen Song? Der Plattenfirma
gefiel unser Demo-Tape, sonst hätten sie uns nicht eingeflogen. Es ging nur noch um Details. Aber Gena gab keine Ruhe. Sie hatte einen Text geschrieben. Sehr düster. Der neue Song war nicht schlecht, aber ging in Richtung Dark Metal …«
    Michael zündete sich die nächste Zigarette an, aber niemand protestierte, weil wir alle wissen wollten, wie die Geschichte weiterging.
    »Wir stritten die ganze Nacht, dabei wäre es nicht schlecht gewesen, ein bisschen zu schlafen. Wir hatten noch einmal Sex, aber das war eher eine Art Bonustrack. Am nächsten Morgen war das Meeting mit der Plattenfirma in SoHo. Gena spielte den neuen Song vor. Die Typen von der Plattenfirma fanden ihn gut und wollten den Song in unser Album aufnehmen, aber ich war dagegen.«
    Verständnislos schüttelte Susanne den Kopf. »Warum?«
    »Weil das nicht mehr Heavy Metal war.«
    »Und das Album?« schaltete sich Ingrid ein.
    »Ist nie erschienen.«
    Betretenes Schweigen machte sich breit in dem Probenraum, das Andreas beendete. »Wegen eines einzigen beschissenen Songs hast du deine Karriere gegen die Wand gefahren?«
    »Ja, wegen eines einzigen beschissenen Songs«, bestätigte Michael und starrte in unsere ungläubigen Gesichter. »Das versteht ihr nicht, weil ihr keine Musiker seid. Ein Song ist nicht einfach ein Song. Ein Song, also ein guter Song, kann alles beinhalten, was du über das Leben wissen musst. Er kann dein Leben verändern, so oder so.«
    »Und Gena?« erkundigte sich Susanne.
    »Gena hat Karriere gemacht. Ihr könnt sie googeln, auf YouTube laufen Videos von ihr. Wir haben uns nie mehr wieder gesehen … doch, einmal auf einem Festival. Da waren Titties & Beer ihre Vorband. Wir haben Backstage ein Bier getrunken und sie meinte, ich hätte Power. Zum Glück war die Anmeldefrist für das Referendariat noch nicht abgelaufen,
als ich aus New York zurückkam. Nachdem ich gelandet war, fuhr ich vom Flughafen direkt zum Kultusministerium und machte alles klar.«
    Michael stellte die Black Pearl zurück in ihren Ständer und wollte weiter zur nächsten Gitarre, aber er realisierte, dass wir ihn alle schweigend anstarrten.
    »Was?!«
    Michael griff nach der Gitarre, überlegte es sich aber anders. »Verdammt, ich hatte Angst! Jedes Jahr ein neues Album. Immer größere Bühnen. Ich bin ein guter Gitarrist, aber ohne eigene Ideen. Deshalb bin ich bei Titties & Beer genau richtig. Wir spielen Songs, die schon tausendmal gespielt wurden. Die sich bewährt haben und immer funktionieren. Songs, bei denen du nichts falsch machen kannst.« Michael lächelte erleichtert nach diesem Geständnis. »Die Schule ist auch eine Bühne, und wenn man ein bisschen Erfahrung hat, wie man einen

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