Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden
während er meinen Vater, der sein Leben längst gelebt hatte, warten ließ. Beate war noch so jung, keine 50. Aber an wem konnte ich meine Wut auslassen? Die verdammten Gladiolen! Die hatten mich schon in der U-Bahn genervt, weil ich überall damit aneckte. Mit einem Fußtritt öffnete ich den Mülleimer, um die Blumen hineinzuwerfen, aber sie waren zu lang. Also begann ich mit ihnen auf den Mülleimer einzudreschen, dass die kleinen weißen Köpfe durch die Küche segelten wie Hagelkörner.
Die Schwester war zurück ins Wohnzimmer gegangen und saß wieder bei den Kuverts für die Todesanzeige.
»Kaffee?«
Sie nickte und adressierte das nächste Kuvert.
Ich setzte in der Küche Kaffeewasser auf, fegte die Reste der Gladiolen zusammen und betrachtete die gelben Klebezettel, die an den Kacheln über der Spüle hingen – Staubsaugerbeutel alle – Paket auf der Post abholen, Personalausweis nicht vergessen – Sperrmüll anmelden – Dienstagabend Gruppe bei Susanne in Grünwald . Dieser Zettel rührte mich am meisten, denn er betraf auch mich. Der Tod hatte alles schockgefroren mit seinem Eishauch. Vorbei, vorbei. Es würde keine neuen gelben Klebezettel mehr geben. Alles, was einmal war, war nur noch Erinnerung. Die Affenbabys würden von einer anderen Frau gestillt werden.
Ein Mann klingelte, weil er Werbung in die Briefkästen stecken wollte, die im Hausflur lagen. Ich rief ihm zu, er sollte sich verpissen. Wie taktlos! Wie konnte man in solch einem Moment für günstige Handytarife werben? Andererseits: War es nicht tröstlich, dass der Vorhang im Tempel nicht in zwei Teile zerriss und die Erde stillstand, sondern dass sie sich weiterdrehte?
»Können Sie etwas sagen auf der Beerdigung?« fragte die Schwester, während sie in ihrem Kaffee rührte.
»Ich kannte Beate doch kaum«, versuchte ich mich herauszureden.
Die Schwester schaute mich an und lächelte. »Sie haben sie doch fotografiert.«
Ihr Lieben, es gibt eine traurige Nachricht. Beate ist gestern Morgen gestorben. Ich habe mit ihrer Schwester gesprochen, es gab Komplikationen bei der Narkose. Die Beerdigung ist am Samstag um 18 Uhr auf dem Waldfriedhof. In Anbetracht der Umstände sollten wir vielleicht das Treffen am Airport ausfallen lassen. Was meint ihr?
Ich hatte kaum die Send-Taste auf meinem Laptop gedrückt, als es schon Reaktionen hagelte. Wobei alle das Telefon wählten, weil jeder das Bedürfnis hatte zu reden. Ingrid verließ sogar ein Podium in Berlin, auf dem sie mit anderen Top-Managern über die Zukunft des Messestandorts Deutschland diskutierte. Nur mit Mühe konnte ich sie davon überzeugen, nach unserem Telefonat wieder in die Diskussionsrunde zurückzukehren und sich nicht, wie Ingrid bitter erklärte, im Hotelzimmer einzuschließen und zu betrinken.
»Beate wäre bestimmt nicht damit einverstanden, dass wir jetzt den Kopf in den Sand stecken.«
Die üblichen Sprüche, die man in solch einer Situation sagt, wenn einem nichts mehr einfällt. Susanne war so in Tränen aufgelöst, dass ich nur die Hälfte von dem verstand, was sie mir sagen wollte. Soviel ich heraushören konnte, machte sie sich Vorwürfe, dass sie sich nicht mehr um Beate gekümmert hatte. Dann übernahm Michael den Telefonhörer – war der immer noch in Susannes Haus mit Aufräumen beschäftigt? Michael wollte von mir wissen, ob es eine gute Idee sei, einen Song auf Beates Beerdigung zu spielen, und wenn ja, welchen?
»Vielleicht was von AC/DC , oder ist das zu heavy?«
»Keine Ahnung, worauf Beate gestanden hat. Irgendwas aus dem Dschungelbuch ?«
Schon wieder war Ingrid in der Leitung. Sie wollte wissen, wie viel jeder von uns bereit wäre, für einen Kranz zu spenden. Ich erklärte, dass Beates Familie gebeten hätte, die für Kränze und Blumen vorgesehenen Beträge auf das Konto des Waisenhauses für Affenbabys zu überweisen.
»Scheiß auf die Gorillas!« ereiferte sich Ingrid.
»Es sind Orang-Utans.«
»Trotzdem, Scheiß auf die Affen! Beate bekommt den schönsten Kranz, den es in ganz München gibt. Ich kümmere mich darum.«
Wieder rief Michael an, was mit Heart of Gold wäre? Neil Young sei zwar eine Nervensäge, aber Beate zuliebe würde er den Song spielen. Das ging die ganze Zeit so, alle aus der Gruppe riefen an. Ingrid stellte ihr Konto zur Verfügung, auf das wir das Geld für den Kranz einzahlen konnten, Susanne hatte schon einen Text für die Schleife entworfen: Du wirst immer 49 bleiben in unseren Herzen. Alle engagierten
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