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Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden

Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden

Titel: Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Heinzen
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verabschiedete sie uns am Gartentor, nachdem sie allen ein Doggy-Bag mit dem Essen gepackt hatte, das übrig geblieben war. Michael erklärte sich bereit, ihr noch beim Aufräumen zu helfen.
    Als ich später im Lehel aus der U-Bahn stieg, begriff ich, dass ich etwas Wichtiges vergessen hatte: Ich hatte vergessen, unsere Selbsthilfegruppe zu meinem 50. Geburtstag einzuladen.

17
    »Verluste kann ich nicht leiden, Sportsfreund, nichts verdirbt mir den Tag mehr als Verluste.«
     
    Die Krankenschwestern zogen gerade das Laken von Beates Bett ab, als ich am nächsten Vormittag mit den Gladiolen das Zimmer betrat. Ich war erleichtert, dass man sie entlassen hatte. Wohin Beate gegangen war, wollte man mir nicht sagen. Datenschutz. Ich rief sie auf ihrem Handy an, aber Beate ging nicht dran. Ich schickte ihr ein Dutzend SMS – keine Reaktion. Was war da los? Sie konnte bestimmt Hilfe gebrauchen. Im Zuge der Kostendämpfung im Gesundheitswesen werden die Patienten heute so schnell wie möglich aus dem Krankenhaus entlassen. Mit einer Handvoll Medikamente. Eine Spritze konnte sich Beate als Krankenschwester selbst setzen. Aber was war mit Einkaufen? Ich erinnerte mich, dass Beate erzählt hatte, sie würde am Rotkreuzplatz über einem Copyshop wohnen. Nach meinem Seminar – in dem die meisten Studenten schliefen bis auf Emma, die auf ihrem Laptop meine Ausführungen im Internet überprüfte und mich sofort korrigierte, wenn ich etwas Falsches sagte – fuhr ich mit der U-Bahn zum Rotkreuzplatz, suchte das Haus und drückte Beates Klingel.
    Eine fremde Frau öffnete die Wohnungstür, um sie mir sofort wieder vor der Nase zuzuschlagen, weil sie mich für einen Vertreter hielt. Aber als ich mich vorstellte, bat sie mich herein und führte mich ins Wohnzimmer, wo an den Wänden Fotos von Beates selbstlosen Einsätzen rund um den Erdball hingen: Beate mit einem Orang-Utan-Baby auf dem Arm. Beate inmitten einer zerlumpten Kinderschar in einem Slum. Beate in der Hängematte an Bord eines Amazonas-Dampfers. Beate in einem Jeep auf einer Piste in der Sahara. Beate beim Tanzen in der Altstadt von Havanna.
    Beates Schwester nahm am Wohnzimmertisch Platz, der übersät war mit Briefkuverts, die die Schwester anhand einer langen Liste adressierte. Waren das die Einladungen zu Beates 50. Geburtstag?

    »Ich habe das auch noch vor mir, wobei es längst zu spät ist«, sagte ich, während ich auf den Stapel mit den Kuverts zeigte. »Wenn Sie wollen, klebe ich die Briefmarken drauf.«
    Ich griff nach der Rolle mit den Marken, aber Beates Schwester entwand sie mir und bat mich, sie in Ruhe zu lassen.
    »Kein Problem«, entschuldigte ich mich. »Ich wollte nur die Blumen abgeben. Gibt es hier irgendwo eine Vase?«
    Die Frau zeigte mit dem Kopf Richtung Küche, wo ich in einem der peinlich aufgeräumten Schränke eine Vase fand. Allerdings waren die Gladiolen viel zu groß für die kleine Vase, die sofort umkippte, als ich die Blumen hineinstellte. Zum Glück hatte ich noch kein Wasser eingefüllt. Ich griff nach der Küchenschere, um die Gladiolen ein Stück zu kürzen, als die Schwester in die Küche kam, mir die Blumen aus der Hand riss und mich anfuhr, wie man so schöne Blumen einfach abschneiden könnte.
    Beates Schwester ließ Wasser in die Vase laufen und stellte die Gladiolen hinein, aber es geschah genau das, was ich befürchtet hatte: Die Vase kippte unter dem Gewicht der viel zu großen Gladiolen. Ich konnte sie gerade noch auffangen, bevor das Wasser auslief. Dabei kamen wir uns für einen Moment sehr nahe, und ich registrierte den gehetzten Blick in den Augen der Frau, die dieselbe grüne Farbe hatten wie Beates Augen, während in mir ein seltsames Gefühl hochstieg, wie wenn ein Flugzeug in ein Luftloch fällt und einem der Magen wegsackt.
    »Wissen Sie was? Ich lege die Blumen ins Waschbecken, dann kann Beate entscheiden, was sie damit machen will.«
    Die Schwester schaute mich an, erst wütend, dann mitleidig. »Sie wissen es nicht, nein?«
    »Was weiß ich nicht?«
    »Man hat es Ihnen im Krankenhaus nicht gesagt?«
    »Nein, was denn?«
    »Es gab Komplikationen bei der Narkose …«
    »Komplikationen?«

    »Sie ist nicht wieder aufgewacht. Ist das nicht verrückt, wo Beate im OP immer bei Narkosen assistiert hat?«
    »Beate ist …?«
    Ich weigerte mich, das unheimliche Wort auszusprechen, während eine unbändige Wut in mir aufstieg. Warum Beate? Das war so ungerecht. Warum riss der Tod diese Frau aus der Mitte des Lebens,

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