Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden
Kapitalismus sauer sein?«
»Verdammt, Andreas, du wohnst mit fast 50 wieder im Kinderzimmer bei deiner Mutter!«
»Das ist nur vorübergehend. Meine ganz persönliche Konjunkturdelle. Schau dir den Dow Jones an. Der rauschte an diesem 15. September in den Keller, trotzdem hat er sich wieder erholt.«
»Ja, aber um welchen Preis? Die Wall Street hat das billige Geld der Steuerzahler, das Regierungen weltweit zur Stützung der Banken in die Finanzmärkte gepumpt haben, wieder angelegt. Die Banker bekommen die fettesten Boni, als habe es die Krise nie gegeben.«
»Und was ist daran verwerflich?«
»Ich verstehe dich nicht, Andreas, du bist doch ein Loser! Warum verteidigst du immer noch den Kapitalismus?«
»Loser?« Andreas lachte. »Eine interessante Kategorie für einen Linken. Also glaubst du auch an den Wettbewerb?«
»Ich glaube vor allem, dass wir uns den Kapitalismus nicht mehr leisten können. Nicht, weil er die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer macht. Weil er ungerecht und unmoralisch ist. Geschenkt! Nein, weil uns, rein ökonomisch betrachtet, der Kapitalismus zu viel kostet. Der Kapitalismus ist zu teuer geworden, ein schlechtes Geschäft. Deshalb müssen wir die Laufzeit begrenzen wie bei den Kernkraftwerken …«
»Bist du fertig, Tommy?«
Ja, ich war fertig. Ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, weil ich an Beate denken musste. Ich war einer der letzten Menschen, mit denen sie Kontakt hatte vor ihrem Tod. Und ich marterte mich mit der Frage, warum ich nicht ein bisschen länger bei ihr im Krankenhaus geblieben war, anstatt die erstbeste Gelegenheit zu nutzen, mich abzuseilen. Auch hier suchte ich nach einer Gelegenheit zu gehen. Ich schämte mich, weil ich mich in einem antikapitalistischen Reflex in Andreas verbissen hatte als meinen natürlichen Feind, ohne zu spüren, dass sich hinter den Sprüchen von Gordon Gekko ein Mann versteckte, der gescheitert war.
»Du hast ein Tipp-Kick-Spiel?!« Während ich mich zum Gehen wandte, fiel mein Blick auf einen ramponierten roten Karton.
»Wollen wir eine Partie spielen?« schlug Andreas vor.
»Welche Mannschaft willst du sein?« fragte ich, während ich das Spielfeld aus grünem Filz auf dem Küchentisch ausrollte.
»Die Bayern«, antworte Andreas, »wer denn sonst? Und du?«
»ManU natürlich.«
»Revanche für das Champions-League-Finale in Barcelona!«
Wir bauten die beiden Tore auf und befestigten die Torhüter – Olli Kahn für die Bayern, Peter Schmeichel für ManU. Dann positionierten wir die beiden Feldspieler in unserer Hälfte.
»Wer bist du? David Beckham, die Schwuchtel?!« lästerte Andreas.
»Ich bin Ryan Giggs! Und du?«
»Mehmet Scholl!« Andreas legte sich den Ball zurecht.
»Aber der wurde doch erst in der 71. Minute eingewechselt. «
»Ja, und?« Andreas tippte mit der Kuppe seines Zeigefingers auf den Kopf von Mehmet Scholl, und der Ball flog in einer schönen Kurve knapp über mein Tor.
»Willkommen in Camp Nou!« kommentierte Andreas das Spiel. »Das Stadion mit seinen 98.000 Plätzen ist ausverkauft. Aber der FC Bayern lässt sich von dieser gigantischen Kulisse nicht beindrucken, sondern beginnt sofort mit einer schönen Kombination, die Mehmet Scholl mit einem eleganten Schlenzer abschließt, der nur knapp über das Tor von Peter Schmeichel streicht …«
Eine Viertelstunde später lag Manchester United hoffnungslos mit 3 : 0 zurück. Vor einem Debakel rettete mich die Mutter von Andreas, die mit ihrem Stock gegen die Wohnzimmertür klopfte – das Zeichen, dass ihre Windeln gewechselt werden mussten.
»Ich komme wieder auf die Beine«, erklärte Andreas, als er mich zur Haustür brachte.
»Klar kommst du wieder auf die Beine.«
»Ist ja nur vorübergehend, dass ich hier wohne.«
»Nur vorübergehend«, bekräftigte ich und gab Andreas die Hand.
Ist nicht alles nur vorübergehend, fragte ich mich, während ich zur S-Bahn ging. Das Unglück von Andreas? Das Leben von Beate? Der Kapitalismus? Die menschliche Existenz? Alles nur vorübergehend.
18
Vor ein paar Wochen war ich auf einem 50. Geburtstag. Ich werde selber 50 und wollte schauen, wie die anderen das so machen, weshalb ich den Gastgeber beobachtete. Das Ergebnis war niederschmetternd: Nachdem mein Freund den halben Abend damit zugebracht hatte, seine Gäste zu begrüßen, begannen die ersten Gäste schon wieder zu gehen, und statt endlich zu feiern stand mein Freund wieder am Eingang und schüttelte Hände …
Ich saß an
Weitere Kostenlose Bücher