Von dieser Liebe darf keiner wissen - wahre Geschichten
im Bauch –
Dario Negrotti, dreißig, wechselt die Stelle, wird Vertreter der Alipro AG, Halbfabrikate für Bäckereien und Konditoreien. Einen schmalen Koffer in der Hand, reist er durchs Schweizer Mittelland, preist Fruchtlinien, Backmassen, Nussfüllungen.
Du siehst müde aus, sagt Judith.
Was ist los mit dir?, fragt Judith.
Nichts!, sagt Dario.
Ich möchte ein zweites Kind, sagt sie.
Le nozze di Figaro.
Otello.
Ekle ich dich?, fragt Judith.
Manchmal, im Firmenwagen unterwegs, passiert er einen Wald, Autos stehen dort, Männer darin.
Der fliegende Holländer.
Manchmal, in Basel oder Zürich, das Köfferchen in der Hand, kommt er an einer Bar vorbei, Männer unter der Tür.
Was ist los mit mir?
Sie ziehen nach Seengen ins Haus von Judiths Eltern, Oberdorfstrasse 11, erster Stock, fünf Zimmer, unten die Eltern, oben der Bruder.
Im Garten Rosen.
Stella, 3900 Gramm, 52 Zentimeter, 28. Januar 1995.
Tosca, Puccini.
Manchmal, im Firmenwagen unterwegs, passiert Dario Negrotti einen Wald, Autos stehen dort, Männer darin, er fährt langsamer.
Er hält nicht an.
Hält nie an.
Judith stillt Stella, Dario bringt den Müll vors Haus, Judith kocht Biologisches, Dario spielt mit Luca.
Und wenn ich doch anhielte?
Dir geht es nicht gut, sagt Judith.
Das geht vorbei, sagt Dario.
Bist du krank?
Nur müde.
Hol Hilfe, sagt sie.
Was für Hilfe?
Weil er die obligatorische Schießpflicht, zwanzig Schüsse im Jahr, vergisst und schließlich verweigert, muss er drei Tage ins Gefängnis.
Dario lobt Mandelmasse weich, Mandelmasse fest, Backmasse braun, Backmasse weiß, Streusel dunkel, Streusel weiß, Streusel hell, Streusel mittel.
Und hält nie an.
Judith sagt: Ich liebe dich, hol Hilfe.
Viermal fährt er nach Baden und setzt sich, die Hände feucht, zu einer Psychologin, erzählt von seinem Vater, der oft am Tisch saß, ein Glas vor sich, und weinte oder lärmte. Und dann schwieg, sobald der Großvater kam, dessen Säcke er trug, treppauf, treppab, dreizehn Stunden am Tag, ein Leben lang.
Einmal, in der dritten oder vierten Klasse, im Rechnen, hatten wir die Lösungen des Banknachbarn zu prüfen, ein Mädchen kontrollierte meine, ich ihre. Und als sie merkte, dass alles, was ich gerechnet hatte, falsch war, stand sie auf und brachte mein Heft dem Lehrer. Der sah es kurz an, holte aus und schlug seine Hand dem Mädchen ins Gesicht, so wütend, dass sie hinfiel und schrie. Er dachte wohl, das Heft und die Fehler darin gehörten ihr. Und ich saß da in der Bank, wartete, dass das Mädchen die Wahrheit verriet, ich wartete und schwieg und schwieg, sagte kein Wort, hatte nur Angst, ein Loch im Bauch.
Dario Negrotti, dreiunddreißig, wird wieder Konditor-Confiseur, arbeitet drei Monate in Beinwil am See, dann zwei Jahre in Reinach, Aargau, steht nachts um ein Uhr auf, kommt mittags zurück, legt sich hin, steht auf, spielt mit den Kindern, legt sich hin, wechselt schließlich in die Bäckerei der Migros.
Ein Schwein, ein Schwein bin ich, ein Schwein, ein mieses dreckiges Schwein –
Manchmal, wenn Judith mit den Kindern unterwegs ist, setzt er sich vor den Computer, www.gayromeo.com, öffnet die Hose, verwischt dann die Spuren, Dateien löschen, Cookies löschen, Verlauf löschen, Formulare löschen, Kennwörter löschen.
Judith gießt Blumen, Dario schnürt Altpapier, Judith trifft Freundinnen, Dario spielt mit den Kindern.
Kirchenchor am Dienstagabend.
Wann hast du mich zum letzten Mal gestreichelt?, fragt Judith und versucht zu lachen.
Dann streichelt er.
Bevor Dario Negrotti aus dem Haus geht, horcht er, ob jemand im Flur steht. Steht einer dort, Judiths Vater oder ihr Bruder, schließt er die Tür und wartet.
Luca, verdammt noch mal, spring nicht ständig über Opas Rosenbeet!
Das macht doch nichts, sagt Judith.
Trotzdem!
Was ist nur los mit dir?
Nichts!
Wie war die Schulreise?, fragt Dario seinen Sohn.
Ganz lustig, antwortet Judith.
Sommers fährt die Familie nach Italien, nimmt in Ancona die Fähre und reist hinüber nach Griechenland, schlägt das Zelt auf, Peloponnes, leichte Tage am Meer. Manchmal, wenn Judith es nicht sieht, schaut Dario Männern hinterher.
An einem Sonntag im März 2005, das Essen steht auf dem Tisch, Dario neben Stella, Judith neben Luca, 5707, Seengen AG, Oberdorfstrasse 11, erster Stock, sagt Judith: Ich kann nicht mehr.
Endlich stehen die Kinder auf, zehn und dreizehn Jahre alt, gehen in ihre Zimmer, Dario hört sie weinen.
Lass uns reden, sagt
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