Von dieser Liebe darf keiner wissen - wahre Geschichten
befahl mich der Lehrer zur Wandtafel. Wir übten das Dividieren. Und ich machte einen Fehler, machte ihn zweimal, dreimal. Da traf mich von hinten seine Hand, mein Kopf schlug gegen die Tafel, eine rote Beule auf der Stirn. Zu Hause fragte die Mutter: Was ist passiert? Und ich sagte: Nichts, hab mich blöd gestoßen.
Was, Herr Negrotti, ist Ihre älteste Erinnerung?
Wir, Vater, Mutter, die ganze Familie, wir sitzen im Zug nach Venetien, unterwegs ins Dorf des Vaters, es ist Morgen, und wir gehen in den Speisewagen und warten und warten, und dann trägt der Kellner etwas auf, was ich noch nie gesehen habe, kleine weiße harte Kunstwerke, Butterröllchen.
Bleich sitzt Dario am Tisch, Judith ist gekommen, um die Scheidung zu bereden: Judith, leg die Akten weg, ich muss dir etwas sagen.
Du zitterst ja, sagt sie.
Dann lacht sie und erschrickt, dass sie lacht. Du und schwul?
Ja.
Seit wann?
Vielleicht schon immer.
Seit wann weißt du es?
Eigentlich schon lange.
Und warum sagst du mir das erst jetzt?
Weil ich dich nicht verlieren wollte.
Mich oder die Kinder?, fragt sie.
Euch alle, meinen Lebenstraum, sagt Dario Negrotti.
Scheidung durch das Bezirksgericht Lenzburg, kein Streit, kein Anwalt, Aktenzeichen EO2010 166, 10. September 2010.
Stella sagt: Auch wenn du jetzt schwul bist, Paps, ich habe dich trotzdem lieb.
Am 1. Januar 2011, Neujahr, lädt Dario Negrotti einen Fremden ins Haus auf dem Hügel, gayromeo.com, Dario öffnet die alte schwere Tür:
DAS IST ER.
Bevor René, auch geschieden, auch zwei Kinder, für zehn Tage nach Frankreich verreist, Februar 2011, schenkt Dario ihm eine rote Rose. René bittet Dario, die Rose, während er fort sei, zu pflegen. Als sie zu welken beginnt, hängt Dario sie zum Trocknen auf und schenkt sie René, kaum zurück, ein zweites Mal.
René legt sie neben das Bett.
Erst jetzt, flüstert Dario in seinen Armen, merke ich, dass möglich ist, was Opern auf die Bühne bringen, Leidenschaft, Wahnsinn, Eifersucht.
Bist du wahnsinnig?, fragt René.
Noch nicht, sagt Dario.
Aber?
Eifersüchtig!
Und wie geht es Ihnen heute?, fragt die Psychologin, 28. März 2011.
Heute! Weil er heute so glücklich sei, zumindest bis auf weiteres, möchte er ihr etwas schenken, die Arie des Tamino, Zauberflöte, Mozart, Köchelverzeichnis 620, denn anderes habe er nicht zu bieten, sagt Dario Negrotti, achtundvierzig, Konditor-Confiseur bei der Migros, schwul, zwei Kinder, verliebt, er steht auf, reibt an der Hose die Hände trocken und singt mit heller Stimme: Dies Bildnis ist bezaubernd schön, wie noch kein Auge je gesehn. Ich fühl es, wie dies Götterbild mein Herz mit neuer Regung füllt. Dies Etwas kann ich zwar nicht nennen, doch fühl ich’s hier wie Feuer brennen.
Das Ende der Scham
Jetzt weint Gertrude Harris, die kaum weinte, als ihre Männer starben, Vater, Stiefvater, Halbbruder, Sohn, Ehemann, aber ich soll mich nicht schämen, dass ich jetzt weine, Gertie ist vierundneunzig, Urgroßmutter, ihre Unterlippe zittert, Gertie weinte nicht, als sie vor Monaten vom Gehsteig fiel und sich die Hüfte brach, sie sitzt im Rollstuhl und weint unter dem Himmel von Harrow Wealdstone, London, ihre Füße, in grauen Hausschuhen, sind in dicke graue Socken gepackt, Möwen lärmen, es ist Sonntagnachmittag im Februar, und auf der Straße halten Polizisten Autos an.
Als Bürgermeisterin von Harrow, spricht die Bürgermeisterin, darf ich Sie zu diesem historischen Augenblick willkommen heißen. Die Bürgermeisterin trägt einen roten weiten Mantel, ein Fell auf ihrer Brust, die Amtskette, und dort, wo sie steht, ist mit weißer Kreide ein M auf den Asphalt geschrieben, M für Mayor, Bürgermeister, daneben ein B für Bishop, Bischof. Dies, sagt sie, ist kein Moment von Schuld und Bitternis, dies ist ein Moment der Erinnerung und Dankbarkeit.
Gertie hörte zu weinen auf, wenn Mama befahl, hör auf zu weinen, hat Mama gesagt, hör auf damit, wenn die Herrschaft dich hört, verliere ich die Stelle. Mama lachte selten. Erzählte sie von Harry Farr, ihrem Mann, der im Krieg geblieben war, Gerties Vater, sagte sie nur, wie hübsch er gewesen sei, sechs Fuß groß und dunkles krauses Haar hatte er, so schönes Haar, graue Augen, Mama wusste seine Soldatennummer, seine Einheit, 8871 Private Harry Thomas Farr, First Battalion West Yorkshire Regiment, gestorben im Morgengrauen des 18. Oktober 1916 in Carnoy, Nordfrankreich, sechs Uhr, Harry zitterte nicht, er verbat sich die Augenbinde, sah ihnen,
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