Von dieser Liebe darf keiner wissen - wahre Geschichten
Nashorn, nie, nie!
Die Rekrutenschule in Wangen an der Aare, Sommer, Herbst 1983, Luftschutzsoldat Dario Negrotti liegt im Schießstand, den Finger am Abzug, er schwitzt, trifft die Scheibe nie.
Normal?
L’opera de tres rals von Brecht und Weill, die Dreigroschenoper auf Katalanisch, Teatre Romea, Barcelona, Donnerstag, 21 Uhr, 10. Mai 1984.
Dario Negrotti, einundzwanzig, zieht nach Mühledorf, formt Nussgipfel, Mandelgipfel, Schnecken, Kuchen, Torten, er zieht nach Basel, macht Gipfel und Kuchen, geht abends in die Oper, ins Theater, Basel, Zürich, Bern, St. Gallen, Luzern, fragt, ob man einen Kulissenschieber brauche, jemanden, der den Vorhang zieht, Kostüme bügelt, Spiegel putzt, die Bühne wischt oder irgendwas.
Wenn Sie Schreiner wären, Maler oder Schneider, tut uns leid.
Er denkt an ein Leben in Italien, im Land des Vaters, der abends, krumm von der Kohle, die er seit Jahren schleppt, am Tisch sitzt, müde, stumm.
Il barbiere di Siviglia von Gioachino Rossini, dirigiert von Claudio Abbado, La Scala, Mailand, Sonntag, 20 Uhr, 6. Januar 1985.
Wieder wohnt er jetzt im Haus der Eltern, Kanalgasse 2, 4552 Derendingen SO, es ist Fasnacht, Schmutziger Donnerstag 1985, Dario, zweiundzwanzig, lernt eine Frau kennen, Judith, Textildesignerin, sie ist schön und klug.
Ich habe eine Stelle im Tessin, flüstert er in ihren Armen.
Du gehst fort?, fragt sie.
Komm mit!
Wie lange?
Zwei Jahre, vielleicht drei. Oder für immer.
Er zieht nach Paradiso, Pasticceria Münger, Judith folgt ein halbes Jahr später und findet Arbeit in einer Papeterie, in einem Kiosk, sie fahren nach Florenz, Faust von Gounod, reisen nach Venedig, Così fan tutte, Mozart. Dario kauft jedes Opernprogramm, stapelt die Hefte sorgsam im Schrank.
Du bist, haucht er, das Beste, was mir bis jetzt passiert ist.
Wart’s ab, sagt sie und gurrt.
Sie ziehen nach Lenzburg, Kanton Aargau, wohnen in der Nähe von Judiths Eltern, sie entwirft Stoffe, er formt Gipfel und Schnecken, macht Pralinen, Kuchen, Torten, steht nachts auf, fährt zur Arbeit, kommt mittags zurück und legt sich ins Bett, möchte schlafen.
Wann heiraten wir?
Zu zweit fahren sie nach Mailand, es ist Sonntag, 5. Juni 1988, und weinen im Gestühl der Scala, La Bohème, Puccini, inszeniert von Franco Zeffirelli, oh, come è bello e morbido!, non più le mani allividite, il tepore le abbellirà… Sei tu che me lo doni?
Dario Negrotti, achtundzwanzig, ist jetzt Vertreter der Oswald Nahrungsmittel GmbH und reist von Haus zu Haus, lobt Hühnerbouillon gekörnt, Ochsenbouillon fettfrei, Gemüsebouillon Méditerranée, Backperlen, Saucen, Suppen. Am 14. Februar 1991, unterwegs am Zürichsee, geht er über eine lange steile Treppe, die zu einem Kunden führt, Oberrieden, es ist Vormittag, Dario dreht sich zum See, um die Aussicht zu genießen, und sieht, wie helles Licht aus den Wolken fällt, ein Loch im Himmel, traumfarben, ein Bühnenbild, Die Zauberflöte vielleicht, zweiter Aufzug, letzte Szene. Es ist ein guter Tag, Dario verkauft und verkauft, Sel marin aux herbes, Pepe al Limone, Sauce Café de Paris, Salsa Pomodoro Salerno, mehr als je zuvor.
Am Abend steht Judith neben der Tür, Lenzburg, Murackerstrasse 12.
Dein Vater, sagt sie, heute Vormittag ist er gestorben.
Zur Hochzeit mieten sie einen Nauen auf dem Zugersee, 29. Juni 1991, und fahren nach der Trauung hinüber zum Baumgarten, eine Kapelle spielt auf, Geige, Gitarre, Cello, man isst Trois filets, Rind, Kalb, Schwein, feiert und tanzt bis in die Nacht.
Die Mutter sagt: Dein Papa sitzt neben uns.
Hochzeitsreise nach Sizilien, vier Wochen, Aida von Verdi, Teatro Greco di Siracusa, Judith ist schwanger und trinkt keinen Wein.
Warum bist du nie eifersüchtig?
Möchtest du, dass ich es wäre?, fragt er.
Vielleicht!, sagt sie.
Jetzt singt Dario Negrotti im katholischen Kirchenchor, probt jeden Dienstagabend von acht bis zehn Uhr, eilt dann nach Hause zu Judith. Sie richtet das Kinderzimmer ein, kauft ein Bettchen, kauft Kleidchen, eine Waage, Windeln, Spielsachen, im Geburtsvorbereitungskurs liegt Dario an Judiths Seite und atmet mit ihr.
Sie flüstert: Wie kann man nur so glücklich sein!
Am 28. März 1992 reißt die Plazenta, Blut schießt aus Judiths Leib, fleischige Fetzen, Dario rennt zum Telefon, sieht den Zettel nicht, der vor ihm an der Wand hängt, darauf die Nummer des Spitals.
Luca, 4140 Gramm, 53 Zentimeter.
Eine Stunde lang, allein in einem hellen Zimmer, hält er das Kind in den Armen.
Es singt
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