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Von dieser Liebe darf keiner wissen - wahre Geschichten

Von dieser Liebe darf keiner wissen - wahre Geschichten

Titel: Von dieser Liebe darf keiner wissen - wahre Geschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nagel & Kimche AG
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als sie schossen, ins Gesicht, Harry Farr war sechsundzwanzig Jahre alt, seine Frau Gertrude zweiundzwanzig, seine einzige Tochter Gertie drei. Mama las den Brief, las ihn vielleicht ein zweites Mal und versenkte ihn dann in der Bluse, Mama erzählte mir nie ein Wort, kein Wort, Mama verschwieg während vierzig Jahren. Zu unserem Bedauern müssen wir Ihnen mitteilen, dass Soldat Harry Farr wegen Feigheit vor dem Feinde erschossen worden ist. Sie steckte den Brief in die Bluse und schwieg. Am 4. November 1914 war Harry Farr, ein Gerüstbauer aus London, Soldat der Reserve, nicht freiwillig in den Krieg gezogen, sie hatten ihn, kaum war der Streit in Brand, nach Frankreich befohlen, in die Gräben des Nordens, Schlacht von Neuve Chapelle, 11000 tote deutsche Soldaten, 11500 tote britische Soldaten, während fünfunddreißig Minuten wurde mehr Munition verschossen als in den Burenkriegen, Gertie hat viel gelesen, sie denkt, sie sollte wissen, was Harry tat und lebte, in der Schlacht in Aubers Ridge hatte ihr Vater gekämpft, an den sie keine Erinnerung hat, sechs Tage, 11000 tote Briten, 75000 tote Deutsche, 100000 tote Franzosen. Mama und ich lebten in einem kleinen Zimmer in North Kensington, 12 Wornington Road, in einem ganz kleinen Zimmer, wie damals alle wohnten, arm und zufrieden. Das Mädchen dachte, ihr Vater sei im Kampf gefallen, wie alle Väter im Kampf fielen, dachte ich mein halbes Leben lang. Mama wurde immer dünner, bleicher, und eines Tages, als Harrys Vater sie fragte, was los sei mit ihr, sie sei so bleich und dünn, erzählte sie ihm. Standrechtlich hingerichtet von den eigenen Leuten. Harrys Vater, der zwölf Jahre lang Soldat gewesen war, der vier Söhne im Weltkrieg hatte, schloss die Läden des Hauses und verbot, den Namen Harry wieder zu nennen.
    Es ist uns eine Ehre, spricht die Bürgermeisterin in den frühen Sonntagnachmittag, Harry Farrs Tochter heute hier an unserer Seite zu haben, Gertrude Harris, und andere Mitglieder der Familie. Wir in Harrow sind stolz auf tapfere und selbstlose Männer und Frauen, die im Zeichen der Freiheit ihr Leben gaben. Sie steht, den Rücken zur High Street, Ecke Spencer Road, vor einem kleinen Turm aus rotem Backstein, auf dem Dach, aus Blech, dreht eine Windfahne, die Uhr geht eine Stunde nach, TO OUR GLORIOUS DEAD 1914–1918 ist auf Sandstein geschrieben, darunter Dutzende von Namen. Lautsprecher stehen auf hohen Ständern, ein Übertragungswagen des Fernsehens, Kameramänner, Tonmänner, Absperrgitter, die Stadtgärtner haben zwei Verkehrspfosten von ihren Sockeln geschraubt und hölzerne Kisten an deren Stelle gebracht, Primeln darin und kleine zittrige Palmen, es könnte bald regnen. Wir sind stolz auf Harry Farr, sagt die Bürgermeisterin, der seinem Land diente und unter so tragischen Umständen ums Leben kam. Die Hände im Schoß, den Blick gesenkt, sitzt Gertie im Rollstuhl und denkt, jetzt darf ich doch weinen, nicht wahr? Mama sagte oft, hör auf zu heulen, sonst hört dich die Herrschaft, wenn du weinst, und dann verliere ich meine Stelle, weil du so laut bist. Mama hatte sich in Harry verliebt, als sie sechzehn war, er war zwanzig, und sie wohnten an derselben Straße, Wornington Road in North Kensington, Westlondon, die ganze Welt lebte an dieser Straße, Harry Farr hatte acht Geschwister, Gertrude Young zwölf, Harrys Vater war Plattenleger, Gertrudes Bauarbeiter, Harry war Gerüstbauer, Gertrude Magd, seit sie dreizehn Jahre alt war. Sie sahen sich an einem Sonntagnachmittag auf der Wornington Road, heirateten im Frühling 1913 und zogen in ein Zimmer, 12 Wornington Road, dort gebar Gertrude am 29. Oktober 1913 eine Tochter und gab ihr den Namen, den so viele schon hatten in ihrer Familie, Gertrude, Gertie. Dann war Weltkrieg, Harry in den Gräben von Nordfrankreich, Schlacht nach Schlacht, Wochen, Monate, ein Jahr, Harry begann zu zittern, er machte in die Hose, Private Harry T. Farr ertrug das Schlachten nicht länger, den Lärm, den Tod, er bat um Urlaub, viermal bat er um Urlaub, sagte, er könne nicht mehr, brauche Urlaub, die Offiziere, wenn sie zitterten, durften nach Hause, nicht Harry, den ich nie kannte. Fünf Monate lang lag er in einem Lazarett bei Boulogne, er zitterte so sehr, dass er seiner Frau, seiner Tochter nicht schreiben konnte, Harry war unfähig, einen Stift in Händen zu halten, und bat eine Pflegerin, schreiben Sie bitte meiner Frau, es geht mir gut. Im Oktober 1915 befahlen sie ihn zurück an die Front, im April 1916

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