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Von dieser Liebe darf keiner wissen - wahre Geschichten

Von dieser Liebe darf keiner wissen - wahre Geschichten

Titel: Von dieser Liebe darf keiner wissen - wahre Geschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nagel & Kimche AG
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Krieg. Und ich, ich konnte zuerst nicht schlafen, mein Vater ein Feigling, ein Feigling mein Vater, und schwieg weitere vierzig Jahre, erzählte es nur Frank, meinem Mann, den Kindern nicht, die wussten es nicht. Und so ging das Leben weiter und weiter, meine Liebsten starben, einer nach dem andern, Halbbruder, Sohn, Ehemann. Dann, 1992, fuhr ich einmal mit meiner jüngsten Tochter Janet zu Mama, Janets Großmutter. Janet sagte, ich reise nach Frankreich in die Ferien, dort könnte ich doch Großvaters Grab besuchen, wo liegt das denn? Gertrude und Gertrude sahen sich in die Augen, schwiegen, sahen sich an, begannen zu reden. Wenn Harry Farr kein Feigling war, sagte die Jüngste, dann geschah ihm Unrecht, was tun wir dagegen? Gertrude Harris nahm sich einen Anwalt, Janet schrieb Brief um Brief, verlangte Akten, dreimal waren wir im High Court und sagten, Harry Farr war kein Feigling, er war tapfer, aber krank, dreimal waren wir dort, Premierminister John Major sagte, man könne nicht umschreiben, was geschehen sei, man sagte, es gibt kein Gesetz, das eine Ehrenrettung erlaubt, man könne heute nicht unterscheiden, wer wirklich feig gewesen sei und wer krank, immer wieder, wir schrieben ans Parlament, Unterhaus, Oberhaus, vierzehn Jahre lang, Gertrude Harris saß in ihrem liebsten Sessel neben dem Telefon und begriff nicht, als am frühen Abend des 15. August 2006 ihr Anwalt anrief, Gertie, you’ve got it, sie saß in ihrem Sessel und wollte nicht dumm sein und fragte, tut mir leid, ich verstehe Sie nicht. Er sagte, Harry ist rehabilitiert, kein Feigling mehr, alle 306 Briten, die im ersten Krieg standrechtlich erschossen wurden, sind rehabilitiert. Die ganze Nacht konnte ich nicht schlafen, überlegte, ob ich träumte. Am anderen Morgen rief ich ihn an und sagte, ich glaube es erst, wenn ich es schwarz auf weiß habe, und das hat Gertrude Harris seit drei Wochen, unter Glas leuchtet die Wahrheit an der Wohnzimmerwand, 16 Belmont Lodge, unterschrieben vom Verteidigungsminister des Vereinigten Königreichs, Des Browne, dieses Dokument hält fest, dass Soldat Harry Farr, 1st Batallion West Yorkshire Regiment, hingerichtet am 18. Oktober 1916 wegen Feigheit, nach Artikel 259 der Armed Forces Act 2006 begnadigt ist. Damit ist anerkannt, dass er eines von vielen Opfern des Ersten Weltkriegs war, und dass die Hinrichtung ein Schicksal war, das er nicht verdiente, The Secretary of State for Defense.
    Und jetzt schmettert der Trompeter seinen letzten Gruß in die Straßen von Harrow Wealdstone am Nordwestrand der Stadt London, es ist Sonntag, drei Fahnen senken sich auf den Asphalt, der Verkehr hält still und auch die Möwen, und Gertie, im Fünfundneunzigsten, legt zitternd einen Kranz aus künstlichen roten Blumen nieder, in liebender Erinnerung an Harry Farr, unvergessen von seiner Familie, die jederzeit daran glaubte, dass er ungerecht behandelt wurde, ruhe in Frieden, Gertrude Harris, Tochter.

Mit keiner Menschenseele
    Die Frau heiße Agnes.
    Agnes ist einundfünfzig Jahre alt, und sie weiß nicht, wer sie ist. Alles ist hell, die Wände, das Bett, ihre Hände. Sie schließt die Augen, sie möchte schlafen oder sterben. Um ihre Arme sind Binden geschlagen. Nichts oder alles tut weh.
    Der Notfallarzt schreibt: Mehrfache scharfrandige quer zur Armlängsrichtung verlaufende Haut- und Weichteildurchtrennungen an beiden Handgelenksinnenseiten sowie im Ellbogenbereich links innen, dazu unterschiedlich geformte scharfrandige Hautdurchtrennungen auf dem Brustbein rechts, in der rechten Brust sowie an der Halsvorderseite mit scharfkantiger Durchtrennung der Weichteilgewebe.
    Agnes G. Während eines Gewitters wurde sie geboren, am Morgen des 11. Juli 1949, kurz nach dem Läuten der Glocken in der nahen Kapelle, Hausgeburt. Der Vater, ein leiser Mensch, arbeitete bei der Bahn, ein Gleisbauer. Agnes war das dritte von vier Kindern. Unsere Agnes war ein normales Kind, sagt die Mutter. Agnes sprach nie viel. Am liebsten spielte sie mit einem Reh, das der Vater eines Tages verletzt nach Hause brachte. Das Reh, weil es so große Augen hatte, hieß Agnes.
    Protokoll-03: Gemäß chemisch-toxikologischer Analyse vom 27.10.2000 stand Frau G. nicht unter dem Einfluss von Drogen, Medikamenten oder Alkohol.
    Eine Frau tritt in den Raum, Zimmer 1010, setzt sich neben Agnes. Frau G., ich bin Polizistin. Was ist passiert?
    Agnes sagt: Es ist Herbstmesse.
    Ja, es ist Herbstmesse, sagt die Polizistin, Frau G., was ist passiert?
    Agnes fragt: Wo

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