Von dieser Liebe darf keiner wissen - wahre Geschichten
lag er wieder zwei Wochen lang in einem Lazarett, weinend und stumm, der Krieg kochte weiter, im Sommer 1916, obwohl Harry Farr kaum noch gehen konnte, kämpfte er die Schlacht an der Somme, am ersten Tag, 1. Juli 1916, starben 58000 Briten, nach dem Kampf, Dezember, waren die Alliierten, Franzosen und Briten, zwölf Kilometer weiter, 200000 tote Franzosen, 420000 tote Briten, 500000 tote Deutsche.
Stolz sei sie auf Tapfere und Selbstlose, die im Zeichen der Freiheit ihr Leben hingaben, sagt sie, links Western Union, rechts Pizza on Demand, Saville Funeral Service, eine Wäscherei, an den Fenstern, von den Lautsprechern aufgeschreckt, stehen Kinder im Schlafanzug, indische Gesichter, es ist Sonntagnachmittag in Harrow Wealdstone am Nordwestrand von London, Möwen über der High Street, Ecke Spencer Road. Harry Farrs Name, sagt die Bürgermeisterin, steht heute an diesem Mahnmal auf einem kleinen besonderen Schild. Das bedeutet nicht, dass er eine besondere Behandlung genießt. Denn sobald das Wetter wärmer ist und trocken, werden die Steinmetzen Harrys Namen zu den Namen seiner gefallenen Kameraden setzen. Das hätte er sich gewünscht, das wünscht sich seine Familie. Und Gertie fährt jetzt ein Lächeln übers Gesicht. Dreißig Tage Trockenheit braucht der Sandstein, damit er nicht bröselt, wenn sie ihn hauen. So lange wollen sie nicht warten, mir zuliebe, Gertrude Harris, geborene Farr, vierundneunzig und dem Tod so nahe wie dem nächsten Sommer. Manchmal, wenn sie allein in ihrer kleinen Wohnung sitzt, 16 Belmont Lodge, und aus dem hohen Fenster schaut, wenn alles ruhig ist, nur die Vögel singen, denkt sie, wie wird es sein, wenn ich hinüber bin? Dass es ein Drüben gibt, daran zweifelt Gertie Harris nicht. Vater, Mutter, Stiefvater, Halbbruder, Sohn, Ehemann sind schon dort. Harry Farr, denkt sie, mein Vater, wird Uniform tragen, so schön und jung wird er sein wie auf dem einzigen Bild, das sie von ihm hat, in Uniform beim Fotografen, die Mütze hat er auf eine Brüstung gelegt, in der Rechten hält er weiße Handschuhe, in der Linken – ist das eine Zigarette?, Gertie kann gut verstehen, dass Mama sich in Harry verliebte an einem Sonntagnachmittag in der Wornington Road, wo die ganze Welt wohnte.
Die Bürgermeisterin sagt, ich lade den Bischof von Willesden nun ein, mit uns eine Andacht zu feiern. Der Bischof, langes lila Kleid, das Haar kurz und gefettet, spricht ins Mikrophon, wir haben uns heute hier gefunden, eines Mannes zu gedenken, der im Krieg Verachtung erfuhr, Niedertracht und schließlich den Tod, verursacht durch eine ungerechte, launische Militärjustiz. Wir bezeugen diesem Mann unseren Respekt und setzen seinen Namen auf die Ehrentafel, eingedenk der Jahre, da seine Liebsten litten unter dem Schmerz der Behauptungen, die gegen Harry Farr erhoben worden waren.
Harry machte in die Hose, er zitterte, zitterte noch im Schlaf. Ein Feldarzt befahl ihn ins Lazarett, dort befahlen sie ihn zurück aufs Feld, Private Farr sei nicht verletzt, also kampftauglich. Den Satz, den ein Offizier schrie, weiß Gertie auswendig, Gertie kennt die wenigen Akten, die geblieben sind, Private Farr, you are a fucking coward and you will go to the trenches. I give fuck all for my life and I give fuck all for yours and I’ll get you fucking well shot, Soldat Farr, Sie sind ein beschissener Feigling, und Sie gehen jetzt zurück in die Schützengräben. Mein Leben ist mir keinen Scheiß wert, genauso wenig wie das ihre, und ich werde dafür sorgen, dass Sie verdammt noch mal erschossen werden. Zwei Soldaten nahmen Harry Farr in ihre Mitte, zerrten ihn an die Front, Harry stieg nicht in den Graben, Verhaftung am 17. September 1916, Private Farr kam vors Militärgericht, 2. Oktober 1916, Aktenzeichen WO71/509, Harry verteidigte sich selber, ein Arzt, der für ihn hätte sprechen können, lag verwundet in einem Zelt, zwanzig Minuten Prozess, 1353 Worte,
Anklage: Artikel 4.(7) Army Act (Feigheit vor dem Feinde), Verteidigung: Unschuldig,
Urteil: Schuldig. Tod.
Der Morgen graute, Harry zitterte nicht, er verbat sich die Augenbinde, sah ihnen, als sie schossen, ins Gesicht, shot at dawn. Eines Tages, ein halbes Jahr nach der Hinrichtung ihres Mannes, als die Witwe im Postamt war, um das wenige Geld abzuholen, die Kriegspension, die sie seit zwei Jahren abholte, sagte die Dame am Schalter, tut mir leid, Mrs Farr, Sie bekommen nichts mehr, Mama wurde wieder Magd, Dienstmädchen, das Zimmer, in dem wir lebten, konnten wir
Weitere Kostenlose Bücher