Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
Wort, während sie das alles machte. Sie fragte mich nicht, wie ich mich fühlte, oder versicherte mir, dass alles schon gut gehen würde. Und ich bin ihr dankbar dafür. Ich weiß, was die Leute von Mädchen wie uns denken, von Mädchen, die an einem solchen Ort landen. Aber trotz unserer Verhaltensauffälligkeiten und Vergehen und trotz der vielen bunten Pillen, die sie uns verschreiben, lügen wir uns gegenseitig nichts vor.
Doktor Gilyard hat mich gerade eben noch einmal in ihr Büro kommen lassen. Ich dachte schon, sie würde mich wie immer auf dem Stuhl in ihrer Therapieecke Platz nehmen lassen und mich noch einmal fragen, ob ich bereue, was ich getan habe. Aber sie machte eine Kopfbewegung zum Telefon auf ihrem Schreibtisch.
»Ich habe da jemanden für dich am Telefon, Emily.«
Ich blickte erst sie an, dann auf das Telefon. »Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich will nicht mit ihr reden.«
»Bitte, Emily.«
Ich wich einen Schritt zurück. »Ich hab ihr nichts zu sagen. Was ich mitzuteilen habe, werde ich vor Gericht aussagen.«
Sie nahm den Hörer und reichte ihn mir, genauso wie sie es an dem Nachmittag im Fernsehzimmer mit dem Cellobogen gemacht hatte. Ich musste wieder an Val denken, wie sie tot in ihrer Zelle lag.
Mir zitterten die Knie, als ich das Telefon nahm, und ich setzte mich.
»Hallo?«
»Emily«, sagte eine Stimme, und mein Herz pochte wie wild.
Ich glaube, mein Herz wusste es früher als ich.
»Dad?«
»Hallo, mein Kleines.«
Alles in mir entspannte sich auf einmal.
»Daddy!«
»Geht es dir gut, mein Kleines?«
Es dauerte einen Moment, bis ich ihm antworten konnte. Ich musste erst einmal tief Luft holen. Trotzdem brachte ich nur ein Flüstern heraus. »Ja.«
Danach war es am anderen Ende der Leitung still. Ich hörte das Geräusch eines Stuhls, der zurückgeschoben wurde. Dann seufzte er. »Es tut mir leid, Em. Ich wäre heute gern bei dir. Aber es ist für mich ein bisschen zu spät, jetzt zu versuchen, ein guter Vater zu sein.«
»Schon gut, Daddy.«
»Nein.« Er klang angespannt. Ich konnte ihn vor mir sehen, wie er den Kopf schüttelte, sich vielleicht mit einer Hand über die Stirn fuhr. »Nein, das ist nicht gut. Du solltest das nicht ganz allein durchstehen müssen.«
»Ich bin nicht allein.«
»Wer ist denn bei dir? Diese Ärztin?«
»Ja.« Ich blickte Doktor Gilyard an, die mir gegenübersaß. »Doktor Gilyard.«
»Sie hat es durchgesetzt, dass ich jetzt noch mit dir sprechen kann.«
Ich wollte ihm sagen, wie sehr mich das freute. Wie gut es mir tat, seine Stimme wieder zu hören. Aber ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen, und ich durfte jetzt nicht heulen. Ich wollte stark und tapfer sein. Er sollte merken, wie stark und tapfer ich war.
Doch er spürte es trotzdem.
»Alles in Ordnung bei dir, mein Kleines?«
Ich versuchte, die Tränen wegzublinzeln, aber ich schaffte es nicht. Deshalb presste ich die Augen zusammen. »Ja.«
»Zeigst du es ihnen?«
Da musste ich lachen. Es fühlte sich warm und weich in meiner Brust an. »Ja.«
Ich öffnete die Augen und blickte zu Doktor Gilyard. Sie blätterte durch ihr Notizbuch und tippte mit dem Ende ihres Bleistifts gegen ihre Unterlippe.
»Tapferes Mädchen. Bist du bereit?«
Ich zupfte einen Faden vom Ärmel meiner Jacke. »Ich hab meinen schwarzen Hosenanzug an.«
»Den vom Konzert in St. Jude’s?«
»Ja. Riecht irgendwie seltsam. Nach zu Hause.«
»Ja?«
Ich roch am Ärmel. »Ja, riecht nach dem Parfüm, das du mir zu meinem sechzehnten Geburtstag in Paris gekauft hast. Erinnerst du dich?«
»Natürlich erinnere ich mich. Wie hieß noch mal das Café, in das wir danach gegangen sind?«
»
Ladurée
.«
»Ja,
Ladurée
. Fünfundzwanzig Euro für eine Tasse Tee und ein kleines Törtchen, und du hast es noch nicht mal gegessen!«
»Hab ich!« Ich musste wieder lachen und spürte dabei, wie etwas in mir sich regte. Wie bei einer Narbe, wenn man sich geschnitten hat und vom Schmerz nach ein paar Tagen nur noch ein Jucken übrig bleibt.
Mein Vater lachte auch. »Hast du nicht! Du hast davon nur ein paar Fotos mit deinem Handy gemacht.«
»Aber das Törtchen war doch so hübsch! Fast zu schön, um es aufzuessen!«
»Und sag, wie hieß noch mal diese verrückte Buchhandlung?«
»
Shakespeare and Company
.«
»Wie hast du es da drinnen nur fertiggebracht, so viele Bücher zu finden? Mein Gott, was da für ein Durcheinander herrschte.«
»Wenigstens konnten sie Englisch.«
»Zum Glück.
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