Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
war verunsichert gewesen, aber danach hatte ich trotzdem meinen ersten Treffer an diesem Tag gelandet.
Es muss hart für sie gewesen sein. Sie muss geglaubt haben, sie hätte bei mir einen Durchbruch erzielt, denn ich konnte beobachten, wie sie auf den Wangen rote Flecke bekam, während sie auf meine Antwort wartete. Vielleicht hielt sie sogar die Luft an, weil ich jetzt endlich zu einem Häufchen Elend kollabieren und zu ihren Füßen losschluchzen würde. Ich drehte das Gesicht weg.
»Schon in Ordnung, sagen Sie’s ruhig.«
»Was denn sagen, Emily?«
»Sie wissen schon, was.«
»Was soll das denn sein, Emily?«
»Warum sagen Sie es nicht?«
»Warum sagst du es nicht, Emily?«
Immer eine Frage auf eine Frage.
Meine Finger krallten sich um die Lehnen. »Darf ich rauchen?«
»Hast du denn Zigaretten dabei?«
Sie wusste, dass ich keine Zigaretten dabeihatte. Die Pflegerinnen haben die Zigaretten, und wir dürfen nur vier am Tag rauchen: eine nach dem Frühstück, eine nach dem Mittagessen, eine nach dem Abendessen und eine, bevor wir ins Bett gehen. Am Anfang machte mich das total wütend, aber es scheint nur zu meinem Besten zu sein. Das alles hier, dieser ganze verdammte Ort, dreht sich um nichts anderes als darum, zu unserem eigenen Besten eine strenge Ordnung in unseren Tagesablauf zu bringen. Ich stehe immer zur selben Zeit auf, ich dusche immer zur selben Zeit, ich esse immer zur selben Zeit, und ich gehe immer zu selben Zeit ins Bett.
Mein Leben ist ein Song, bei dem jemand endlos die Repeat-Taste gedrückt hält.
Wahrscheinlich soll ich das irgendwie tröstlich finden, diese Regelmäßigkeit. So was sei nämlich normal, erklären sie mir. So verhalten sich nämlich normale Teenager – sie schlafen jede Nacht acht Stunden und schminken sich jeden Abend ab. Und rufen nicht um drei Uhr morgens ihre Freundinnen an, weil sie einfach mal ein bisschen quatschen wollen.
Alles, was normal ist, muss ich erst wieder lernen.
Und was durchgeknallt ist, muss ich verlernen.
»Aber am Anfang haben Sie es mir erlaubt.«
Am Anfang, als ich stundenlang bei ihr in ihrem Büro saß und das Schweigen zwischen uns immer drückender wurde, hatte sie die Schachtel auf dem Tisch zwischen uns geschoben und nichts weiter dazu gesagt. Aber ich wusste, wenn ich etwas sagte, konnte ich eine haben. Und deshalb erzählte ich ihr etwas, irgendwelche Kleinigkeiten. Geständnisse, die so lange dauerten, wie man braucht, um eine Zigarette zu rauchen. Um sie von den Dingen abzulenken, von denen ich nicht wollte, dass sie sie in ihr Notizbuch schrieb.
»Ich habe keine Zigaretten, Emily.«
Da bin ich aufgestanden. Ich mache das oft, in ihrem Büro herumgehen. Als müsste ich mir dort alles genau ansehen, alles berühren. Mit meinen Fingern über ihren Schreibtisch fahren und über die Bücher in ihrem Regal, als würde ich sie alle durchzählen.
»Ist es das, was bei mir nicht in Ordnung ist?«, fragte ich sie bei unserer ersten Sitzung, zog ein Lehrbuch über Schizophrenie bei Jugendlichen heraus und hielt es ihr unter die Nase. »Bin ich verrückt?«
Als sie nicht antwortete, stellte ich es an seinen Platz zurück, neben ein Buch über Schlafstörungen, und fuhr dann mit meinem Finger weiter über die Buchrücken. »Oder wie wär’s damit?«, fragte ich, zog ein anderes heraus und blickte auf den Umschlag. »
Persönlichkeitsstörungen und ihre Behandlungsmethoden
.« Ich schielte zu ihr hin, aber sie saß reglos und aufrecht da, hob nur leicht das Kinn.
Ich fing an, durch die Seiten des Buchs zu blättern, und hielt bei einem Kapitel über die Borderline-Störung inne. »Könnte auf mich zutreffen«, sagte ich, als ich die Symptome durchlas. »Meine Gefühle unterliegen extremen Schwankungen. Trifft auf mich genauso wie auf jeden anderen weiblichen Teenager zu. Wahrscheinlich sind wir alle gestört.«
Als ich mich zu ihr umdrehte, nickte sie. »Warum liest du nicht den Rest?«
Ich blickte auf die Seite –
… fällt ihnen schwer, Beziehungen einzugehen und aufrechtzuerhalten … extrem schwankendes Selbstbild … Risikobereitschaft, ohne sich der Folgen bewusst zu sein
– und klappte das Buch wieder zu. »Nööh. Klingt langweilig. Haben Sie nichts mit Vampiren?«
Doktor Gilyard lächelte nur. Und sie lächelte auch heute, als ich zu ihrem Schreibtisch ging und dort die Schubladen aufzog. In der ersten war fast nichts, nur ein paar Kugelschreiber und ein rosa Leuchtmarker. In der zweiten befand sich eine Tube
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