Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
acht, da lebte mein Großvater noch. Ohne ihn wollte meine Oma nicht mehr hierherkommen. Es wirkt alles so verändert.«
Ich weiß noch, wie mir das Herz schwer wurde, als ich an dem Tag bei dem Cottage ankam. Der Baum war nicht so hoch, wie ich ihn in Erinnerung hatte, und ich hätte schwören können, dass er früher näher am Meer gestanden hatte. Ich konnte es sehen – irgendwo in der Ferne –, und ich konnte es riechen, es lag dieser typische Salzgeruch in der Luft, aber es war viel zu weit weg.
»Mach keine Dummheiten, Rose«, sagte Juliet. Trotz der Sonne muss es kalt gewesen sein, denn ich sah, wie ihre Locken vom Wind zerzaust wurden. Selber spürte ich nichts. »Da vorne an der Straße ist ein Café. Lass uns zusammen dorthin gehen und einen Tee trinken.«
Ich kannte das Café. Mein Vater hatte mir dort immer ein Eis gekauft, wenn wir hierherkamen. Er nahm mich auf seine Schultern und lief mit mir den Hügel hinunter. »Hältst du dich auch gut fest?«, fragte er, und dann machte er große Hüpfer, und ich hörte gar nicht auf zu juchzen.
»Bitte, Rose«, sagte Sid und machte einen Schritt auf mich zu. »Du jagst mir ja richtig Angst ein.«
»Als ich acht war, bin ich auf diesen Baum geklettert. Es war die größte Heldentat meines Lebens. Ich fühlte mich, als gehörte mir die Welt.«
Ich drehte mich zu Sid, der mit zurückgeneigtem Kopf in den Himmel emporschaute, und ich wusste, dass er an den Nachmittag damals im Park dachte.
»Aber nach ein paar Minuten stellte ich fest, dass ich ganz allein war.« Ich hielt kurz inne, und er sah mich fragend an. »Ich war vorher noch nie allein gewesen. Es war sonst immer jemand in der Nähe, wenn ich zu Hause spielte oder im Park auf dem Klettergerüst herumturnte. Doch hier auf dem Baum war ich allein. Wenn mir etwas passierte, würde es niemand erfahren. Niemand würde mich finden, weil ich das erste Mal in meinem Leben niemandem gesagt hatte, wohin ich ging. Ich war einfach losgezogen.«
Sid nickte. »Einen Augenblick lang glaubte ich, dass ich meinen Vater, meinen Onkel, meine Oma und meinen Großvater nie wiedersehen würde. Ich dachte, mein Leben sei jetzt vorbei.« Noch in der Erinnerung krampfte sich mir dabei das Herz zusammen. »Es ist schrecklich, acht Jahre alt zu sein und plötzlich die Erfahrung zu machen, dass man ganz allein auf der Welt ist. Auf einmal zu wissen, dass dein Vater nicht immer für dich da sein wird. Ich hatte auf den Baum klettern wollen, seit ich ihn das erste Mal gesehen hatte, und jetzt wäre es mir lieber gewesen, ich hätte es nicht getan.«
Der Wind blies mir die Haare ins Gesicht, und als sie auf meinen Wangen festklebten, merkte ich erst, dass mir die Tränen hinabliefen. Ich zitterte. »Wenn man zu neugierig ist, bricht es einem nur das Herz.«
Sid machte einen Schritt auf mich zu und wollte etwas sagen, aber Juliet kam ihm zuvor. »Wenn es wegen gestern ist und wegen unseres Streits«, sagte sie, »dann mach dir da mal nicht zu viel Gedanken. Wir kriegen das schon wieder hin. Schließlich sind wir Freundinnen.«
Ich schaute sie an. »Weißt du überhaupt, was du mir angetan hast?«
»Was denn?«
»Du hast mein Leben zerstört.«
Sie sah mich verwirrt an. »Was hab ich? Wie meinst du das?«
»Du hast meinen Vater mit dem Messer schwer verletzt.«
Ich sagte es ganz leicht dahin. Nach so vielen Monaten, in denen mir diese Worte immer wieder auf der Zunge gelegen hatten, wenn sie mich anlächelte oder wenn Sid sie küsste, und in denen ich sie immer wieder hinuntergeschluckt hatte, kamen sie jetzt leicht und treffsicher aus meinem Mund. PANGPANGPANGPANG .
Ich merkte, wie ihr der Atem stockte, dann machte sie unwillkürlich einen Schritt zurück. »Wer bist du?«
»Wer
ich
bin? Wer bist
du
? Das ist doch die Frage.«
Sid blickte zwischen uns hin und her. »Was läuft hier zwischen euch ab?«
»Erzähl es ihm, Juliet.« Mit einem kalten Lächeln sagte ich ihren Namen. Sang ihn wie eine Arie.
Sie machte noch einen Schritt zurück. »Wer bist du?«
»Na ja, wenn du Juliet Shaw bist und mit dem Messer auf meinen Vater eingestochen hast, dann müsste ich folglich …« Ich legte den Kopf und tat, als würde ich nachdenken.
»Du bist Emily Koll«, stieß sie hervor, und ich schaute sie daraufhin mit einem breiten Grinsen an.
Noch nie zuvor hatte jemand schon einmal Angst vor mir gehabt – richtig Angst, meine ich. Jetzt war es so. Ich kann nicht sagen, dass ich es genossen habe, obwohl es ja genau das war,
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