Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
einen solchen Kloß im Hals, dass ich kein Wort herausbrachte.
Zum Glück musste ich das auch nicht, weil nämlich eine Frau, die nicht viel älter als mein Vater sein konnte, auf uns zukam. Sie hatte eine Plastiktüte in der Hand. »Hier, steck sie einfach da rein«, sagte sie und lächelte, als Sid den Strauß in die Tüte steckte. Ein paar Blütenblätter fielen dabei ab und lagen nun über den braunen Blättern auf dem Grab verstreut. Es sah sogar ziemlich hübsch aus.
Wir standen einen Moment lang zu dritt an dem Grab, ich mit meinem Skizzenbuch, Sid mit den Händen in den Taschen seines Kapuzenshirts und die Frau mit ihrer Plastiktüte, in der jetzt die vertrockneten Rosen steckten.
»Mein Dad«, sagte Sid schließlich.
»Dann bist du Ginas Sohn?«, fragte die Frau erfreut. Sid lächelte und nickte. »Ist bei ihr alles in Ordnung?«, fragte die Frau dann nach. »Ich hab sie seit Wochen nicht mehr gesehen. Ist sie krank?«
»Nein, nein, alles in Ordnung«, sagte Sid und blickte auf das Grab.
»Deine Freundin?«, fragte die Frau und lächelte mich an.
Sid grinste. »Das ist Rose.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte ich mit einem Kopfnicken.
»Rose! Was für ein hübscher Name.«
Als ich zu Sid schielte, grinste er immer noch, und sobald die Frau einmal kurz wegsah, zog er mich an den Haaren. Ich schlug seine Hand weg, da machte er es noch einmal, und wir mussten beide kichern. Als ich danach bemerkte, dass sie uns beobachtete, bekam ich einen roten Kopf.
»Schon in Ordnung, Mädchen«, sagte sie. »Denk dir nichts dabei. Mein Sohn war in eurem Alter, und ich find’s schön, mal wieder mit jungen Leuten zu reden.«
War. Das Wort schlug wie eine Kanonenkugel zwischen uns im Gras ein. Ich spürte, wie der Boden unter meinen Füßen erbebte und die Grabsteine wankten.
»Da liegt er«, sagte sie und deutete auf das nächste Grab.
Sie nahm Sid am Arm und führte ihn hin. Dabei lächelte sie, als könne sie es gar nicht erwarten, uns beide ihm vorzustellen. Das Grab war eines von denen, die »Komm zurück!« riefen. Es saßen darauf mehrere Teddybären, Rosensträuße steckten in Vasen, um eine war ein rot-weißer Schal gewickelt.
Ich brachte es nicht über mich, hinzusehen.
»Mein Jamie«, sagte sie und drückte Sids Arm. »Ein richtiger Hansdampf. Immer Leute um sich herum. An dem Wochenende, an dem er starb, war er gerade erst aus Agia Napa zurückgekommen. Sie waren zu siebzehnt dort, alle Jungs miteinander. Ich wüsste zu gern, was aus ihnen allen geworden ist!«
Sie lächelte Sid an, und Sid lächelte zurück. Lächelte, als meinte er es aufrichtig so. Und ich weiß nicht, warum; ich fühlte mich, als hätte mir jemand in die Seite geboxt.
»Er hatte sich nicht gut genug eingecremt«, sagte sie. »Mit was für einem Sonnenbrand er zurückgekommen ist! Seine Nase schälte sich ab.« Sie lachte und berührte ihre eigene Nase, während sie auf das Grab hinunterblickte. »Er dürfte hier nicht so allein liegen. Er hasste es, allein zu sein.«
Dann lachte sie nicht mehr, und es war still. Ein Zug ratterte an der Friedhofsmauer entlang. Ich wechselte einen Blick mit Sid. Er schien sich genauso unwohl zu fühlen wie ich.
»Dad war auch ein Arsenal-Fan«, sagte er mit einem Kopfnicken hin zu dem rot-weißen Schal, um sie etwas abzulenken, so wie man das bei einem Kind tut. »Seit seinem Tod war ich kein einziges Mal mehr bei ihnen im Stadion. Ich kann mir noch nicht mal ein Spiel im Fernsehen angucken.«
Ich wollte auf ihn zu und ihm sagen, dass ich auch mal ein Arsenal-Fan war. Und dass ich ohne meinen Vater auch nie mehr bei ihnen im Stadion war. Aber darum ging es ja nicht. Es ging nicht um mich.
Wir standen da und blickten alle miteinander auf Jamies Grab, und dann beugte sich seine Mutter vor und nahm einen Rosenstrauß aus einer der Vasen. Sie ging zum Grab von Sids Vater und steckte ihn in die leere Vase dort. Ich bekam kaum Luft. Ich musste an Bean denken. Ich hatte fast vergessen, dass Menschen so nett sein können.
»Ja, das war der Augenblick«, sagte ich zu Doktor Gilyard und reckte trotzig das Kinn vor. »An diesem Tag änderte sich alles.«
»Woher willst du das wissen?«
»Weil ich nach seiner Hand griff und sie kurz hielt, nur eine Sekunde lang.«
»Und was hat er gemacht?«
»Als ich seine Hand losließ, griff er von sich aus nach meiner und drückte sie.«
»Und was glaubst du, Emily, warum er das getan hat?«
Ich muss jetzt aufhören, bevor ich noch zu viel
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