Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
klein war. Immerhin durfte ich mit zum Trauergottesdienst. Ich erinnere mich nicht mehr an viel, nur dass wir in ein großes Auto eingestiegen sind und alle einen Regenschirm dabeihatten. Und dass es in der Kirche nach Möbelpolitur roch und nach ausgeblasenen Geburtstagskerzen.
Als ich mit Sid durch das Friedhofstor ging, war mir einen Moment ganz bang zumute. Der Friedhof war größer als erwartet. Er erstreckte sich weit und flach und grün vor uns, mit einem breiten, geteerten Weg in der Mitte. Sid und ich redeten nicht miteinander, während wir zusammen durch den Friedhof gingen, wir blickten nur auf die Grabmale, die überall aus dem Gras ragten. Die meisten davon waren schlichte, moosbewachsene Steine oder keltische Kreuze mit abgerundeten Ecken. Hier und da stand ein Engel mit ausgebreiteten Flügeln über ein Grab gebeugt, oder ein plumper Putto saß mit gekreuzten Beinen auf einer Grabplatte.
Bei den Gräbern im ersten Teil des Friedhofs machte ich mir erst noch nicht viel Gedanken, sie waren alt und die Steine oft verwittert oder so stark mit Efeu bewachsen, dass man kaum mehr etwas von ihnen sah. In ein paar Jahren gäbe es sie vielleicht überhaupt nicht mehr, dann wären sie völlig verschluckt. Erde zu Erde, wie man so schön sagt, und all das. Aber auf einmal musste ich an meine Mutter denken, ob sie wohl auch irgendwo unter einem solchen Gewirr von Ranken begraben lag. Da fingen meine Hände so stark zu zittern an, dass ich mein Skizzenbuch ganz fest umklammerte, damit Sid es nicht bemerkte.
Die Grabsteine am Ende des Friedhofs waren jüngeren Datums, und es fanden sich auf ihnen auch häufiger Blumen. Einer hatte die Form eines Teddybären, und als ich die Jahreszahlen darauf las, blickte ich hastig wieder weg. Ein paar Reihen weiter beugte sich eine alte Frau in einem warmen Wollmantel über ein liebevoll bepflanztes Grab, zupfte ein paar vertrocknete Blätter weg und lockerte mit einer Harke die Erde auf. Sie blickte kurz hoch, als Sid und ich vorbeigingen, und lächelte uns zu, und da musste ich mich wohl unwillkürlich näher an ihn gedrängt haben, denn auf einmal berührten sich unsere Hüften. Ich zuckte zusammen und wäre fast gestolpert.
Sid fragte mich, ob alles in Ordnung sei, und ich glaube, daraufhin nickte ich. Ich erinnere mich nicht mehr so genau. Ich erinnere mich nur noch daran, dass ich eine Grabplatte anstarrte, auf der eine einzelne rote Rose lag. Aber nicht überall lagen Blumen, und den Anblick dieser Gräber ertrug ich kaum – der Gräber, zu denen keiner kam. Sie wirkten so einsam und verlassen neben den anderen mit ihren Kränzen, Luftballons oder farbigen Windrädern, wie man sie in Brighton am Strand kaufen konnte. Man merkte sofort, wer vermisst wurde. Diese Gräber riefen »Komm zurück!«.
All die Trauer und den Kummer der Leute zu sehen war fast zu viel für mich. Wenn ich jetzt plötzlich sterben würde, dachte ich, wie würde dann mein Grab aussehen? Ein solcher Gedanke war vielleicht merkwürdig, aber mir wurde klar, dass auf meinem keine Blumen liegen würden. Da beschloss ich, dass ich nach meinem Tod verbrannt werden wollte, und dann sollte jemand auf den Baum neben unserem Cottage in Brighton klettern und meine Asche in die Luft schleudern. Vielleicht könnte ich dann auf den Flügeln von Möwen noch eine Weile über dem Meer schweben.
Ich glaube, Sid merkte, dass mir das Ganze ziemlich zusetzte, denn er wandte dauernd den Kopf und musterte mich, während wir aufs Ende des Friedhofs zusteuerten, direkt neben den Bahngleisen. Wahrscheinlich war das ein ziemlich blöder Gedanke von mir, aber als wir an der Mauer entlanggingen, hoffte ich, dass sein Vater nicht ausgerechnet da lag. Es war nicht gerade ein sehr friedlicher Ort, um dort die Ewigkeit zu verbringen. Doch Sid blieb unter einem Baum mit knorrigen Ästen und einem dicken Stamm stehen. Der Baum hatte bereits fast alle seine Blätter verloren, die wie braunes Konfetti über das Grab verstreut waren. Mehr Schmuck war auf dem Grab auch nicht sehen. Keine Kränze, keine Kerzen, nur die Blätter und in einer Vase ein Strauß vertrockneter Rosen, deren Blütenblätter schon ganz eingerollt waren.
»’tschuldigung«, murmelte er, als er sie bemerkte. Er bückte sich und nahm sie hastig aus der Vase, als wäre ich überraschend bei ihm zu Hause aufgekreuzt und er hätte nicht abgespült.
»Schon in Ordnung«, wollte ich sagen, aber als ich ihn so dastehen sah, den welken Strauß in der Hand, hatte ich
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