Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
sage.
Dieser Moment zählt nämlich auch zu den Erlebnissen, an die ich die Erinnerung ganz fest in mir verschließen muss. Bevor ich hierhergekommen bin, habe ich meine Erinnerungen alle wie an einer Kette aufgefädelt – die schönen und guten Erinnerungen, die Erinnerungen an meine Mutter und Sid und meinen Vater, wie ich ihn immer gekannt habe, den Vater, der mich bei Arsenal-Spielen auf seine Schultern genommen hat und mir Gutenachtgeschichten vorgelesen hat, wenn ich nicht einschlafen konnte, und der zu all meinen Cellokonzerten gekommen ist – und nachts bin ich sie dann alle nacheinander durchgegangen, als würde ich einen Rosenkranz beten.
Ich kann das jetzt nicht mehr tun. Ich muss sie ganz tief drinnen in mir verschließen, wo keiner sie findet. Damit sie mir keiner wegnehmen kann. Denn darum geht es doch, oder? Nicht darum, dass Doktor Gilyard sie nicht haben darf. Nein, ich habe Angst, dass sie mir sagt, ich selbst dürfte sie nicht mehr haben.
Dass ich diese Erinnerungen nicht mehr verdiene, nach allem, was ich getan habe.
[zurück]
I ch sitze wieder im Waschraum. Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist. In meinem Kopf dreht sich alles. Als wäre ich ein Ball, der einen Hügel hinunterrollt. Oder als hätte man mich in den Schleudergang einer Waschmaschine gesteckt. Ich sollte damit aufhören. Ich sollte dieses Heft zuklappen und nie mehr ein Wort hineinschreiben. Aber was mache ich? Ich sitze hier in der Badewanne und schreibe – und dabei ist mir so kalt, dass sich mir die Zehen verkrampfen, so stark schlottere ich.
Ich hab noch nie vorher jemandem meine Geschichte erzählt. Musste ich auch nicht, es kennt sie ja sowieso jeder. Ich dachte, mehr gäbe es auch gar nicht zu erzählen; und den innersten Teil meiner Geschichte könnte ich für mich behalten. Aber die Finsternis, die in alle Winkel meines Lebens zu kriechen begann, nachdem Juliet auf meinen Vater eingestochen hatte, kommt immer näher und näher. Ich kann es spüren. Alles wird immer grauer. Erinnerungen, die vorher glasklar waren, sind unscharf und verschwommen. Ich glaube, deshalb schreibe ich jetzt alles auf, falls die Finsternis nämlich siegt. Ich kann es manchmal spüren, wie sie an den Rändern meines Gehirns nagt. Wenn sie jemals auch den Rest von mir verschlingen sollte, sind das die Dinge, an die ich mich erinnern möchte.
Deshalb schreibe ich lieber weiter.
Kaum hatten wir den Friedhof verlassen, verkündete Sid, er habe einen wahnsinnigen Hunger. Ich glaube, er wollte die Unsicherheit zwischen uns überspielen, oder vielleicht hatte er auch tatsächlich Hunger, das konnte beides gut möglich sein. Jedenfalls besorgten wir uns Pommes und aßen sie im Park.
Es war erst vier Uhr nachmittags, aber es fing bereits an, dunkel zu werden. Ich hasse den Winter. Die Kälte kitzelte an meinen Ohren, und von der Tüte mit den Pommes, über die ich meine Hand hielt, stieg warmer Dampf auf, der mir die Finger wärmte. Ich schmeckte das Salz. Der Essiggeruch stieg mir in die Nase. Ich habe seither keine Pommes mehr gegessen, aber ich erinnere mich sofort wieder an den Geruch und muss an Sid denken und an jenen Nachmittag, wie wir nebeneinander immer weiter durch den Park spaziert sind.
»Bist du deswegen ein Jahr lang nicht zur Schule gegangen?«, fragte ich. »Hast du dir wegen deines Vaters eine Auszeit genommen?« Ich starrte dabei auf meine Pommes hinunter, weil ich mir nicht sicher war, ob ich nicht vielleicht eine unsichtbare Linie überschritten hatte. Und zwar, ohne dass er mich dazu aufgefordert hatte.
»Auszeit ist höflich formuliert. Ich bin total ausgerastet«, sagte er lachend. Ich musste an seine Tattoos denken. Sink. Swim.
»Kam es überraschend?«
Er nickte. Und dann erzählte er mir, was passiert war. Von seinem Vater, von der Prügelei vor dem Pub. Er nannte ihn einen Helden. Sein Blick streifte dabei die Parkbänke, an denen wir vorüberkamen. Auf jeder war eine Platte angebracht. Darauf stand »In liebevoller Erinnerung an Edna« oder »Für Albert Chapperton. Dies hier war sein Lieblingsspaziergang«, solche Sachen. Er hat gesagt, dass er für seinen Dad auch gern irgend so was machen würde. Eine Bank aufstellen oder einen Baum pflanzen. Etwas, das überdauern würde. Und das jeder sehen konnte.
»Was hättest du denn lieber?«, fragte er, bevor er sich die nächsten Pommes in den Mund schob.
»Wenn ich tot bin?«
Er nickte. »Willst du, dass die Leute sich an dich
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