Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
mich ebenfalls um und entdeckte weiter hinten einen Jungen und ein Mädchen, die sich so lange und intensiv küssten, als würde die Welt gleich untergehen.
Ich drehte mich leicht genervt wieder nach vorn. Der Bus bremste an der nächsten Haltestelle ab. Jemand aus der vordersten Reihe stand auf und schob sich zwischen den anderen Fahrgästen hindurch. Wahrscheinlich hätte ich ihn gar nicht bemerkt und gleich wieder zum Fenster hinausgeschaut, wenn nicht die Mädchen ein paar Reihen vor mir auf einmal alle hingerissen zu ihm geblickt hätten.
»Na, Sweetie«, rief die Mutigste ihm nach, »wo geht’s hin?«
Ich sah noch ein Lächeln in seinem Gesicht aufblitzen, danach seinen dunklen Haarschopf, und dann war er auch schon die Bustreppe hinunter verschwunden. Ich sprang blitzschnell auf und stürmte ihm nach.
Als ich unten angelangt war, half er gerade einer Mutter mit Kinderwagen beim Aussteigen.
»Sid«, rief ich, und er schaute auf.
Seit dem Wochenende hatte ich ihn nicht mehr gesehen, deshalb wusste ich nicht, wie er reagieren würde; schließlich war die Szene mit Mike und Eve in der Küche ja wirklich peinlich gewesen. Aber sein Gesicht strahlte, als er mich sah.
»Hey, Ro. Geht’s gut?«
Ich nickte.
»Was machst du hier?«
Ich hielt lächelnd mein Skizzenbuch hoch. »Und du?«
»Ich will meinem Dad mal wieder Hallo sagen.« Er machte eine Kopfbewegung.
Erst da merkte ich, dass wir vor einem Friedhof standen. Vor lauter Schreck ließ ich mein Skizzenbuch fallen, das mit einem lauten Knall auf den Bürgersteig fiel. »Oh, tut mir leid, ich –«
»Schon in Ordnung«, sagte er, lachte dabei leise und bückte sich, um es aufzuheben. Als er sich wieder aufrichtete, strich er sich die Haare aus dem Gesicht, und ich konnte seine Augen sehen. Ich hatte ihn vorher nie richtig angeschaut. Also, ich meine, natürlich hatte ich ihn angesehen, aber nie länger als ein paar Sekunden und nie so wie in diesem Augenblick. Er schaute mich an und ich ihn.
»Das war vermutlich der Wendepunkt«, sagte ich. »Als er mich gefragt hat, ob ich seinen Vater kennenlernen wollte. Der sei nicht so quasselig wie seine Mutter.«
Doktor Gilyard zog fragend eine Augenbraue hoch. »Sein Vater ist tot?«
Ich nickte.
»Hast du das vorher gewusst?«
Ich schüttelte den Kopf.
Sie fing an, sich eifrig Notizen zu machen.
»Wusste es Juliet?«
»Nein«, sagte ich, nicht ohne einen gewissen Stolz, und hielt dieses Wissen wie einen Schild vor mich, als wäre es der Beweis, dass ich ihm wirklich etwas bedeutet hatte und nicht alles nur Einbildung gewesen war.
»Wie ist er denn ums Leben gekommen?«
»Er wollte vor einem Pub einen Streit schlichten und hat sich dazwischengeworfen. Und dann schlug er unglücklich mit dem Kopf auf dem Pflaster auf.«
»Sehr couragiert von ihm.«
Ich lachte bitter auf. »Wohl eher dumm gelaufen.«
»Warum?«
»Ich meine, so zu sterben. Auf der Straße zu verbluten. Sein Blut vertrocknete in den Ritzen zwischen den Pflastersteinen, während zu Hause seine Frau und sein Sohn auf ihn warteten. Und wofür? Um ein paar Idioten daran zu hindern, dass sie sich gegenseitig zu Brei prügeln? Er hätte sie weitermachen lassen sollen. So was nennt man Darwinismus. Natürliche Auslese.«
Doktor Gilyard sah mich an. »Glaubst du, deshalb hat Sid es getan?«
»Was getan?«
»Dich zu retten versucht?«
Ich blickte weg. Ich wusste, dass er es deswegen getan hatte. Deshalb ist Sid so, wie er ist. Eine solche Erfahrung hätte die meisten Menschen hart und kalt werden lassen. Nicht so Sid King. Seine Augen und sein Herz blieben weit offen. Er kümmerte sich ununterbrochen um andere Menschen. Aus dem Tod seines Vaters hatte er höchstens die Lehre gezogen, noch stärker das Gute in den Menschen zu sehen. Ich weiß nicht, wie er das fertiggebracht hat, die meisten von uns hätten wahrscheinlich getobt und sich für immer über diese Ungerechtigkeit empört. Aber Sid zog daraus die Lehre, fortzuführen, was sein Vater ihm beigebracht hatte. Sein Erbe bestand darin, selber auch zu versuchen, gut zu den Menschen zu sein.
Als ich keine Antwort gab, fuhr Doktor Gilyard fort: »Und was geschah dann an diesem Nachmittag?«
Ich war vorher noch nie auf einem Friedhof gewesen. Brauchte ich bis dahin nie, aber die Erfahrung muss man wahrscheinlich auch nicht unbedingt gemacht haben. Als mein Großvater starb, war ich acht, und mein Vater ließ mich nicht auf den Friedhof mitkommen, weil er fand, dass ich dafür noch zu
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