Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte
der alltäglichsten und gesündesten Nahrungsmittel überhaupt.
Gewisse Reifeprozesse bei der Herstellung von Lebensmitteln lassen sich nicht beschleunigen. Milch muss einige Stunden lang in der Wärme stehen, um Sahne abzusondern oder zu Dickmilch zu werden. Käse muss tagelang in der Salzlake liegen, um eine Kruste zu bilden und zu reifen, Früchte brauchen hinreichend Sonne und Licht, |50| sonst bleiben sie vitaminarm und sind für den Verzehr nicht geeignet. Wein aus gewissen Rebsorten ist beinahe ungenießbar, wenn er gleich nach dem Keltern getrunken wird. Erst nach Jahren der Lagerung entwickelt er Geschmack und die ihm eigene Qualität und Besonderheit. Nicht zuletzt die Zubereitung und der Verzehr von Essen brauchen ihre Zeit. Unglaublich, aber wahr: Wir sind inzwischen kaum noch bereit, solche Reifeprozesse abzuwarten.
Kein Wunder, dass uns mehrmals wöchentlich zur ultimativen Primetime im Fernsehen ausgerechnet Kochsendungen geboten werden. Fernsehköche haben Kultstatus erworben. Sie nehmen uns das Kochen ab, die Zuschauer auf den Studiotribünen probieren das Essen für uns aus, und wir stillen in der passiven Betrachtung solcher Sendungen unsere leise Sehnsucht nach einer geruhsamen, genussvollen Mahlzeit. Denn selbst haben wir in unserem Alltag nicht mehr die Zeit, uns das entsprechende Essen zuzubereiten.
Bei meinen Recherchen stieß ich im Internet auf
Slow Food
. Diese Bewegung scheint sich genau das auf die Fahnen geschrieben zu haben, wonach ich auf der Suche war. Statt rascher Nahrungsmittelzubereitung und hastigem Essen, was unweigerlich daraus folgt und uns in seiner extremsten Form über Fast-Food-Restaurants angepriesen wird, setzten ihre Anhänger bewusst auf genussreiches Speisen. Ihre Nachricht war so klar wie einleuchtend: Wieso Äpfel aus Neuseeland essen, wenn man in einem Land lebt, wo Apfelbäume vor der Tür wachsen? Warum sollten wir in Berlin Milch trinken, die vom Bodensee kommt, warum griechischen Joghurt essen, solange es Joghurt aus Brandenburg zu kaufen gibt?
|51| Ursprünglich stammt
Slow Food
aus Italien. 1989 von Carlo Petrini aus Bra nahe Turin im Piemont gegründet, warnen seine Anhänger vor der Globalisierung und dem Verlust des Geschmacks. Sie engagieren sich insbesondere für den Erhalt von regionalen Absatzmärkten. Ein Landwirt, der seine Tomaten nicht mehr vor Ort verkaufen kann, wird auch die Kultivierung einzelner Sorten vernachlässigen, die traditionell für seine Region spezifisch sind. Damit schwinden spezielle Formen der Weiterverarbeitung und nicht zuletzt die Gerichte, die aus solchen Tomaten zubereitet werden, und irgendwann gibt es niemanden mehr, der sie vermisst.
Ich recherchierte weiter und stieß auf die Website von
Märkische Kiste
, einer Gruppe von Biobauern aus dem Brandenburger Umland, die Berliner Städter mit regionalem Gemüse beliefern. Von solch einem Angebot hatte ich schon gehört. Meine Kusine, die auch mit Mann und zwei kleineren Kindern in Berlin lebt, hatte mir begeistert erzählt, sie würde sich jede Woche eine Kiste frisches Obst und Gemüse ins Haus liefern lassen. Besonders angenehm daran sei, dass ihr die Ware direkt in die Wohnung geliefert würde. Meine Kusine wohnt im dritten Stock.
Vielleicht war das die geeignete Methode, meinen neuen Ansprüchen an Langsamkeit und genussvolle Ernährung gerecht zu werden. Ich klickte mich zu der Seite »Kontakt« durch und studierte die Liste der Angebote. Sie war weitaus länger als erwartet. Ich hatte die Wahl zwischen einer Kiste mit rohkostgeeigneten Gemüsesorten und Salaten, regionaler Kost, bestehend aus Gemüse, Salat, Kräutern und Äpfel der Region, einer Mutter-Kind-Kiste mit einer Auswahl von Schonkost, ja sogar einer |52| Büro-Kiste, gefüllt mit Fingerfood querbeet: ideal für den Arbeitsplatz. Ich entschied mich für die Regional-Kiste, gab meine Adresse an, schickte die Bestellung ab und harrte der Dinge, die da kommen mögen.
Am nächsten Dienstag, es war zehn Uhr morgens, klingelte es Sturm. Ich ging zur Gegensprechanlage und nahm den Hörer ab. Einem Trompetenstoß gleich schallte mir ein fröhliches »Märkische Kiste« ins Ohr. Ich drückte den Knopf für den Summer und ließ den Lieferanten ins Haus. Sekunden später stand er vor meiner Wohnungstür, grün gewandet in Latzhose und Gummistiefel, dazu ein dicker Pulli. Seine Haare waren verstrubbelt, rot leuchteten die wettergegerbten Wangen – hier mitten in der Stadt eine Erscheinung der anderen Art. Mit
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