Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte
auszusäen.
Schon wenige Monate später konnten wir bei einem Besuch das Ergebnis bestaunen. Schrats Eltern hatten in ihrem Gärtchen tatsächlich Pastinaken geerntet. Das weißliche, rettichförmige Gemüse wuchs offenbar hervorragend in deutschem Boden. Schon begannen wir uns auszumalen, wie wir einen schwunghaften transkontinentalen Pastinaken-Import-Export-Handel aufziehen könnten. Unsere britischen Freunde würden wir – allein aus Dankbarkeit – selbstredend zu Vorzugspreisen beliefern.
Doch wir waren keineswegs die Einzigen, die die Pastinake neu entdeckt hatten. Nachdem wir aus England zurückgekehrt waren, gab es hierzulande schon einzelne Exemplare zu kaufen. In den ersten Jahren wurden sie noch in den Bio-Läden angeboten, doch inzwischen sind sie auch in gewöhnlichen Supermärkten zu haben. Ich bin über diese Entwicklung nicht unfroh. Das Dasein einer Thüringer Gemüsegärtnerin hatte – bei aller Romantik – nicht unbedingt meinem Lebenstraum entsprochen.
Ähnliche Erfahrungen machten wir im ja eigentlich gar nicht fernen England mit der Zuckerrübe. Sie wird dort zu Brei verkocht und gestampft und ist ein unverzichtbares Beiwerk für den Verzehr von sogenanntem Irish Stew, dem irischen Nationalgericht, das uns in London oft serviert wurde. Als wir Schrats Mutter von dieser exotischen Rübe erzählten, wusste sie allerdings sofort, was wir meinten. Zuckerrübe sei, erzählte sie, insbesondere in den entbehrungsreichen Jahren des Zweiten Weltkrieges sowie in der Nachkriegszeit fester Bestandteil des Speiseplans |56| gewesen. Es sei manchmal wochen-, ja monatelang das einzige Gemüse gewesen, das es zu kaufen gab. Rübe gegart, Rübe als Mus, Rübe zubereitet wie ein paniertes Schnitzel – wo immer man mittags hinkam, roch es nach gekochter Zuckerrübe. Der Geschmack habe sich ihr unauslöschlich eingeprägt. Aber es erinnere sie bis heute an schlimme Zeiten, an Jahre, die von Verzicht und Verzweiflung geprägt waren. Schon den Geruch von Zuckerrüben fände sie bis heute entsetzlich. Solange sie nur die Wahl habe, zöge sie jede andere Gemüsesorte vor.
Das gab mir zu denken. Es existiert also eine ertragreiche und nahrhafte Gemüseart, die wir hierzulande mühelos anbauen, ernten und zu vielfältigen Gerichten verarbeiten könnten. Doch weil ihr Geruch an schlechte Zeiten erinnert, wird sie von vornehmlich älteren Menschen nicht mehr gern gegessen, und die nächste Generation lernt diese Gemüseart womöglich gar nicht erst kennen. Denn was wir nicht wissen, werden wir nicht suchen oder gar für unseren persönlichen Speiseplan auswählen, erst recht nicht, wenn es schnell gehen soll.
Für Murkel war der Gedanke keine Überraschung: »Kinder essen nicht gern, was sie nicht kennen, Mami«, verkündete er altklug. Und Erwachsene essen besonders gern Gerichte, die sie an die Kindheit erinnern, dachte ich bei mir. Wenn es »wie bei Muttern schmeckt«, gilt das vielen als das wertvollste Gütesiegel.
Da hatte die gute alte Zuckerrübe bei uns schlechte Chancen, es sei denn, meine Generation, die den Krieg nicht erlebt hat, entdeckt sie neu, führt sie wieder ein, bereitet sie zu und serviert sie fröhlich-fidel beim nächsten Familienessen – weil ihr Geschmack zum Beispiel an eine sorglose Zeit in England erinnert. Oder an einen typischen |57| britischen Sonntagslunch mit Londoner Freunden.
Genau das ist es, wofür sich
Slow Food
einsetzt: traditionelle Gerichte, altbekannte Geschmacksrichtungen, Erhalt von autochthonen Nahrungsmitteln. Inzwischen zählt die Slow-Food-Bewegung weltweit 100 000 Mitglieder. Als Petrini, Sohn eines Eisenbahners, Student der Soziologie und Lokalpolitiker in den Siebzigern anfing, sich für seine Bauern einzusetzen, stand er noch recht allein auf weiter Flur. Nun gut, hielt man ihm damals entgegen, er habe schon recht: Die Tomaten in den Supermärkten kämen aus Holland, aber dafür wären sie wesentlich billiger. Was sei dagegen einzuwenden?
Mitte der Achtziger kam Petrini dann der Aufruhr um einen Weinskandal zugute. Ausgerechnet bei der Herstellung des traditionellen Rotweins seiner Heimatregion, des berühmten Piemonteser Barolo, dessen Ursprünge man bis in 19. Jahrhundert zurückverfolgen kann und der als Wein der Könige gilt, stellte sich heraus, dass er mit Methanol gepanscht worden war.
Petrini reagierte prompt und gründete die
Gesellschaft der Freunde des Barolo
. Daraus entwickelte sich im Juli 1986
Arcigola
, eine Vereinigung, die sich mit der
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