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Von Kamen nach Corleone

Von Kamen nach Corleone

Titel: Von Kamen nach Corleone Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reski Petra
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Lüge, die von der Mafia jeden Tag wie eine Glückspille verabreicht wird, damit ihre Opfer die Schmerzen nicht mehr spüren. In Neapel ist es der Camorra seit zweihundert Jahren erfolgreich gelungen, ihrTerrain gegen den Staat zu verteidigen. Der Staat ist abwesend, weil die Camorra das so will – und die neapolitanische Gesellschaft zersetzt hat wie ein Schwamm das Mauerwerk. Aus der Camorra ist il sistema geworden. Nicht zufällig ist der neue Name der Camorra kein dialektaler Ausdruck, sondern sprachlich neutral, als sei dieses »System« das Natürlichste der Welt, eine Gesellschaftsordnung, ein Gegenstaat, eine Alternative. Das Wort sistemare kennt jeder Italiener. Es bezeichnet nicht nur: in Ordnung kommen, sich einrichten, sondern auch: jemandem eine Arbeit besorgen, eine Position verschaffen. In Neapel sieht diese Position so aus, dass Kinder im Monat tausendfünfhundert Euro damit verdienen, einen Drogenumschlagplatz zu bewachen.
    Jeden dritten Tag wird in Neapel ein Mensch umgebracht. Selbst im legendären Jahr 1994, als Antonio Bassolino seit kurzem Bürgermeister war und den Weltwirtschaftsgipfel in die Stadt geholt hatte, als Bill Clinton unter Missachtung der Bodyguards eine Pizza Margherita im Stehen gegessen hatte und die Medien eilig die neapolitanische Wiedergeburt ausgerufen hatten, selbst in jenem Jahr gab es hundertfünf Tote in Neapel, keine ausreichende Trinkwasserversorgung und Analphabetismus unter den Jugendlichen, von denen jeder dritte unter fünfundzwanzig Jahren arbeitslos war – genau wie heute.
    Und gleichzeitig gibt es in Kampanien die meisten abtrünnigen Mafiosi. Was aber nicht damit zu tun hat, dass die Camorristi mehr Gewissensqualen litten als andere Mafiosi, sondern damit, dass die Camorra horizontal geordnet ist – anders als die streng hierarchisch vertikal organisierte sizilianische Mafia und die monolithische kalabrische ’Ndrangheta, deren Clans föderal gegliedert sind und untereinander stets Verständigung zu erreichen versuchen.Auch wenn das, wie das Blutbad von Duisburg beweist, nicht immer klappt. Bei der Camorra hingegen gibt es keine Hierarchie, was zur Folge hat, dass sich die Clans ständig untereinander bekriegen, was einen hohen Blutzoll fordert. Da ist die Zusammenarbeit mit der Justiz oft die einzige Möglichkeit, das Leben zu retten.
    Aber Gino gegenüber tat ich einfach nur so, als glaubte auch ich an die Kraft seiner Glückspille. Und verschwieg ihm, dass zwei Jungs bereits zwei Mal versucht hatten, mir meine Tasche zu klauen, mitten auf der von ihm als so sicher gepriesenen via dei Tribunali. Zwei Jungs auf dem Fahrrad – wenn sie wenigstens auf einer Vespa gesessen hätten.
    Einmal fuhr ich mit Gino zu dem Grand Hotel La Sonrisa, unweit von Pompei, einem Anwesen mit Säulenalleen aus weißem Stuck, künstlichen Wasserfällen, einem Hochzeitsmarsch, der aus Pfingstrosenbüschen dröhnte, wenn ein Hochzeitspaar über einen roten Teppich einzog, und Kellnern, die mit echten Baccararosen Spalier standen. Vier Hochzeiten fanden gleichzeitig statt, jede Hochzeitsgesellschaft feierte in einem eigenen Pavillon, in einem sah es aus wie in der Spiegelgalerie von Versailles, der daneben erinnerte an die Sixtinische Kapelle, ein anderer war mit einem Wald aus venezianischen Lüstern geschmückt. Zwischen den Gängen wandelten die Gäste über die Alleen. Eine Gesellschaft von weniger als siebenhundertfünfzig Gästen galt als armselig. Alle sahen aus wie Komparsen für den Paten , Männer im Gehrock und mit steifen Hemdkragen, hinter denen Tätowierungen den Hals heraufkrochen, kleine Jungs in Anzug mitsamt Krawattennadeln, dicke Frauen in bodenlangen Ballkleidern und mit kunstvoll hochgesteckten Haaren, die wie Belle-Epoque-Prinzessinnen ihr Kleid rafften, um nicht auf den Saum zu treten.Wenn sie lachten, sah man, dass ihnen ein paar Schneidezähne fehlten. Über allem lag eine Wolke aus Haarspray und Poison , Zigarrenrauch und Schweiß, und Gino sagte: »Weißt du, entscheidend war für mich, zu Beginn meiner Karriere ein paar wichtige Hochzeiten zu machen. Danach lief alles von ganz allein.«
    Das Herz des Spanischen Viertels ist eine Verschlingung aus Einbahnstraßen, man fährt hinein und wird verschluckt, Menschen, Autos, Vespas. Nun passiere ich bereits zum zweiten Mal die Kirche von Santa Catarina di Formiello. Ein Mann empfiehlt mir eine Abkürzung, aber die Gasse erweist sich als nicht kompatibel mit dem Spider, nur für Fiat Puntos geeignet, nach

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