Von Kamen nach Corleone
verzichtete – und die es inzwischen auf eine Auflage von 100 000 Exemplaren bringt. Travaglio schreibt darin täglich mindestens den Leitartikel.
»Die Rechten betrachten mich als Kommunisten, dieLinken als Faschisten«, sagte mir Marco Travaglio. »Die Medien sollten eine Leibwache der öffentlichen Meinung sein. Tatsächlich aber betrachtet das politische Establishment die Medien hier als Schoßhund. Und wenn du kein Schoßhund bist, dann wirst du ständig verklagt, und die Zeitung, in der du schreibst, wird bedroht. Nur wenige machen das, was Journalisten eigentlich tun sollten, und deshalb wirken diese wenigen sonderbar«, sagte Marco Travaglio. »Ich empfinde mich nicht als besonders mutig. Ich mache nichts Besonderes.«
Auch der kalabrische Journalist Francesco Saverio Alessio empfindet sich nicht als etwas Besonderes. Seine Gegner schon. Denn seitdem er ein Buch geschrieben hat, das die Verbindungen zwischen kalabrischen ’Ndrangheta, der kampanischen Camorra und den Freimaurern aufdeckte, wird er bedroht, verklagt, beleidigt, eingeschüchtert. Bei einer Antimafiaveranstaltung in Mailand schrie er seine Wut heraus: »Und wenn ihr mich umbringt, ihr erbärmlichen Scheißkerle, verkauft sich das Buch drei Millionen Mal!«
Und ich dachte an Rino Giacalone, Mafiareporter der Tageszeitung Sicilia in Trapani – der eigentlich nichts anderes macht, als an Pressekonferenzen des Polizeipräsidiums teilzunehmen und über die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zu berichten, staubtrockenes Gerichtsreportergeschäft eigentlich. Aber so entlarvend, dass der Präfekt persönlich Rinos Kündigung verlangte. Außer Rino gibt es keinen anderen Gerichtsreporter mehr in diesem Landstrich, dem ehernen Sockel der Cosa Nostra, wo es keine Abtrünnigen gibt und der seit sechzehn Jahren flüchtige Boss Matteo Messina Denaro unangefochten regiert. Als ich Rino das letzte Mal traf, in seinem nach Jahrzehnten nach Zigarettenrauch riechenden Redaktionsbüro, vor dessenFenster Schwalben zirpten, hatte ihn gerade der Bürgermeister von Trapani wegen eines seiner Meinung nach ungebührlichen Kommentars verklagt, in dem Rino auf die kuriose Koinzidenz hingewiesen hatte, dass sowohl der Bürgermeister als auch der flüchtige Boss Messina Denaro stets von Inquisition sprechen, von der sie sich verfolgt wähnen: Der eine, wenn es um die Ermittler geht, der andere, wenn es um Antimafiajournalisten geht. Der Bürgermeister verklagte Rino auf die stolze Summe von 50 000 Euro. »Wenn es hier wenigstens noch einen Kollegen gäbe, der auch über die Mafia schreibt, wäre ich ruhiger«, sagte Rino.
Wenig später hörte ich seine Stimme im Studio des Lokalradios RMC 101 in Marsala, wo Rino über die Verhaftung eines Cousins des Bosses Matteo Messina Denaro berichtete, der wegen Kokainhandels mit Prominenten festgenommen worden war. Die Wände des Radiostudios waren mit Schaumgummi gepolstert, und vor mir am Mikrophon saß ein junger Mann mit Fusselbart, Krawatte und indischem Glücksband am Handgelenk: Giacomo Di Girolamo, Chefredakteur des einzigen Lokalsenders von Marsala – eine Stunde Autofahrt von Trapani entfernt, da wo Sizilien ganz nah an Afrika rückt, wo das Licht gleißend ist und wo die Häuser ockerfarbene Würfel sind. Und wo alle zwei Wochen eine Bar, eine Werkstatt, ein Geschäft angezündet wird, weil der Besitzer nicht genügend Schutzgeld bezahlt hat.
Di Girolamo legte die »Matteo, wo bist du?«-Jingle ein, der die neuesten Nachrichten über den flüchtigen Boss Messina Denaro ankündigte. An jenem Tag war in Alcamo ein dem Boss nahestehender Clan verhaftet worden, der im Wesentlichen aus drei Achtzigjährigen und zwei Frauen bestand. In der Lokalzeitung wurde der Polizeichef vonallen Honoratioren der Stadt zu der Festnahme beglückwünscht.
»Komisch eigentlich«, sagte Di Girolamo, »an Tagen wie diesem benehmen sich manche Honoratioren wie auf einer Hochzeit: Niemand will sich vorwerfen lassen will, kein Glückwunschtelegramm geschickt zu haben.«
Dann kündigte er seinen Hörern ein Interview mit einem Stadtrat an, der gleichzeitig Regionalassistent für Legalität und Anwalt eines Mafiosos war, was Di Girolamo etwas eigentümlich fand und das auch zum Ausdruck brachte. Als der Mafiaanwalt zugeschaltet wurde, sagte dieser spitz: »Ihre Bemerkung gerade war etwas bösartig.«
Andere Botschaften waren deutlicher. Di Girolamos Auto wurde zerkratzt, bespuckt und aufgebrochen. Seitdem er Rad fährt, sind ihm drei
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