Von Kamen nach Corleone
Diener Gottes, der zuversichtlich darauf vertraut, dass sich die niederträchtige Verschwörung, deren Opfer er geworden war, bald auflösen würde. Wenn die Bosse zu ihren Taten befragt wurden, bestritten sie jede Verantwortung und beriefen sich formgewandt auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht. Sie hätten nichts getan und von nichts gewusst. Es war quälend, den Bossen dabei zuzuhören, wie mühelos sie logen. Sie hatten Hunderte von Menschen ermordet und hielten sich für anständig. Denn sie hatten es ja schließlich nicht für sich selbst getan, sondern für die Mafia. Die Banalität des Bösen legte sich in diesem Gerichtssaal auf die Haut wie der eisige Hauch aus der Klimaanlage. Die Einzigen, die ihre Taten gestanden, waren die abtrünnigen Mafiosi, so wie Gaspare Mutolo, der hinter einem Paravent versteckt aussagte.
Zum ersten Mal hatte die Mafia für mich Gesichter. Denn in dem Gerichtssaal waren nicht nur die Bosse versammelt, sondern auch ihre Ehefrauen, Töchter, Söhne, Brüder, Schwestern, Mütter und Väter, die sich nie gestattethätten, auch nur bei einem Verhandlungstag in Caltanissetta zu fehlen. Die Mafia saß nicht nur in den Käfigen, sondern auch im Zuschauerraum. Aus Sicherheitsgründen wurde kurze Zeit später darauf verzichtet, die Mafiosi durch Italien zu den verschiedenen Prozessen zu bringen – zu aufwändig sei der Transport und überdies ein Sicherheitsrisiko. Heute werden die Bosse nur noch per Video-Übertragung aus den einzelnen Gefängnissen zugeschaltet – und vielleicht sind es diese unscharfen Bilder auf kleinen Bildschirmen, die auch dazu beigetragen haben, die Mafia wieder unsichtbar zu machen.
Bagarella starrte mich an. Er starrte mich während der ganzen, mehrere Stunden dauernden Verhandlung an. Ich war ein neues Gesicht unter all den Gerichtsreportern und Staatsanwälten, Klägern und Nebenklägern, Gesichter, die er sich bereits hinlänglich eingeprägt hatte, den schmalen, langen und etwas eingefallenen Mund einer Nebenklägerin, das kleine, aber hervorspringende Kinn eines Anwalts, die nach unten gezogenen Mundwinkel einer Staatsanwältin. Der Prozess lief bereits seit Monaten, und viele der Anwesenden langweilten sich so, dass sie ständig unter den Tisch gebeugt in ihre Telefone flüsterten. Der Gerichtspräsident rief ebenso hartnäckig wie erfolglos zur Ordnung, die Telefone gehören ausgeschaltet!, und versuchte, dem abtrünnigen Mafioso Gaspare Mutolo eine Frage zu stellen. Und ich fühlte Bagarellas Blick auf meinem Nacken brennen.
Ich fühlte seinen Blick auch dann noch, als ich den Gerichtssaal schon lange verlassen hatte und durch eine sternenlose Nacht von Caltanissetta nach Palermo zurückfuhr. Ich fuhr einen Fiat Uno und hatte nur eine vage Ahnung, in welcher Himmelsrichtung sich die Autobahn befand. Nachts erinnerte nichts mehr an den Weg, den ich beiTageslicht genommen hatte, die Läden waren hinter eisernen Rollläden verborgen, niemand saß mehr auf den üblichen Plastikstühlen auf dem Bürgersteig, die Fensterläden waren geschlossen, aus den Häusern drang kein einziger Lichtstrahl, und ich dachte an Bagarellas Blick, der seltsam regungslos gewesen war. Regungslos und lauernd zugleich.
Ich hielt mich am Lenkrad fest, Caltanissetta schien keine Stadt zu sein, sondern lediglich ein Gerichtsbunker, der nun seine Öffnungen getarnt hatte. Endlich fand ich die Autobahn. Als ich in Palermo ankam, verfuhr ich mich auf dem Weg zu meinem Hotel, Palermo war nichts anderes als eine verlassene orientalische Medina, eine Stadt aus einem anderen Zeitalter. Ich suchte nicht nur nach dem richtigen Weg, ich wollte wieder in meine Gegenwart zurück, zurück in mein Jahrhundert, fern von diesen menschenleeren Gassen, fern der Mafia und dem Blick Bagarellas. Ich sehnte mich nach einer gut beleuchteten deutschen Innenstadt, mit Zebrastreifen, die im Dunkeln leuchteten, mit Straßenschildern, die zuverlässig und unmissverständlich in die richtige Richtung wiesen, mit Vorfahrtsregeln, die respektiert, und Gesetzen, die verhindern würden, dass Mafiosi in einem Hochsicherheitsgerichtssaal einfach und ohne jede Kontrolle ungehindert mit ihren Anwälten plaudern durften. Ich wollte zurück in meine Welt.
Lange nach Mitternacht kam ich im Hotel an. Es war das Grand Hotel et des Palmes, jenes alte, ehrwürdige Hotel Palermos, das nicht nur berühmt ist, weil Wagner in diesen Sälen komponierte, sondern auch, weil es bei den Mafiabossen sehr beliebt war. In den fünfziger
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