Von Kamen nach Corleone
beeindruckt zu geben, auch wenn sie nicht damit gerechnet hatten, frühmorgens mitten in Venedig, zwischen einem gotischen Palazzo und einer Barockkirche über die Mafia reden zu müssen. Eigentlich waren sie auf dem Weg zum Campo Santa Maria Formosa, um die Kirche zu besichtigen. Betreten schwiegen sie, bis sich eine Frau räusperte und sagte, auch sie habe schon lange kein Vertrauen mehr in die deutsche Justiz. Die anderen Frauen nickten zustimmend und blickten in den Himmel, der sich wie azurfarbenes Zellophan über Venedig spannte, wie es sich für Italien gehört. Der Platz zwischen den Gemüsekisten war eng und es galt, ein Ende zu finden, deshalb sagte der Mann lachend: »Aber die Mafia hat ja auch etwas Gutes. Denn sonst würden Sie ja gar nicht mehr leben!«
Als ich im Vaporetto stehe und wieder zurück an die Piazzale Roma fahre, sehe ich einen Freund, einen Gondoliere, vorbeifahren, der mich bemerkt, mir zuwinkt und über den Canal Grande schreit: »Wohin fährst du schon wieder, Petra?«
Ich zögere nur kurz. Und dann schreie ich tatsächlich: »Nach Corleone!« Worauf mich alle im Vaporetto stehenden Venezianer anstarren, als hätte ich soeben eine Kindesentführung angekündigt. Jedenfalls bilde ich mir das ein.
Der Mann, der mir einen Spezialpreis für meinen Garagenplatz versprochen hat, ist glücklicherweise nicht zu sehen, als ich wieder in den Wagen steige. Aber als ich an der Kasse vorfahre, stelle ich fest, dass er sein Versprechen gehalten hat, ich muss tatsächlich nur die Hälfte des normalen Preises bezahlen. Am frühen Morgen ist die Piazzale Roma schwarz von Menschen, die aus den Bussen steigen und zur Arbeit nach Venedig eilen. Mit Mühe bahne ich mir den Weg am Polizeipräsidium vorbei Richtung Autobahn – und denke im Vorbeifahren daran, dass Alessandro Giuliano vor kurzem zum Chef des mobilen Einsatzkommandos von Mailand befördert wurde. Als seine Mutter ihm zu Beginn seiner Laufbahn das Versprechen abnahm, niemals als Polizist in Sizilien zu arbeiten, konnte sie nicht ahnen, dass Mailand heute als Hauptstadt der ’Ndrangheta gilt. Im Sommer 2010 verhaftete die italienische Polizei 300 ’Ndranghetisti, von denen 150 in Mailand ihre Geschäfte betrieben hatten.
Acht Grad Außentemperatur zeigt das Auto an, die Lagune ist nebelverhangen, als ich über die Ponte della Libertà fahre. Heute will ich es bis nach Rom schaffen. Süden! Schon damals, als wir uns mit dem alten Renault vier über die Autobahn quälten, unterschied sich meine Wahrnehmungnicht wesentlich von den Reisenden der Grand Tour zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts: Italien begann für mich erst bei Neapel. Es war das Italien der Myrrhe, der Feigenkakteen und der Agaven, das ich suchte. Städte wie Turin oder Mailand lockten mich nicht, ja die ganze norditalienische Tiefebene schien mir trostlos.
Allerdings ließen die Italiener auch kein gutes Haar an Mailand. Mailand war für sie keine Stadt, sondern ein Schicksalsschlag. Bei dem Schriftsteller Giorgio Manganelli las ich, dass Mailand eine Stadt sei, »die für Schwarzweiß gedacht ist ... Eine Stadt, die immer und ewig nur unter ferner liefen gezeigt wurde, eine Stadt mittleren Alters, nicht richtig neu, aber mit einem Anflug von Beleibtheit, Zeichen eines nicht zur Schau gestellten, aber tröstlichen Wohlstands; ihr idealer Anzug war grau, rauchgrau, grau mit feinen blauen oder braunen Streifen ... Obgleich man dort die ersten Pizzen aß, war Mailand eine Stadt des Nordens, Schwester von Zürich und Cousine von Lübeck.«
Ich war auf das Schlimmste vorbereitet, als ich schon einige Jahre in Italien lebte und zum ersten Mal nach Mailand fuhr. Ich stieg aus dem Zug und traute meinen Augen nicht. Der Bahnhof sah aus wie eine Szenendekoration für Charlie Chaplins Film Der große Diktator , Menschen strömten durch eine himmelhohe Halle, alles war für Riesen gemacht, gigantische Portale, kolossale Marmorsäulen, Freitreppen, bei deren Anblick mir schwindelte, mächtige Jugendstilmosaiken, selbst die Zeiger der Bahnhofsuhr schienen eine übergroße Zeit anzuzeigen, und als ich schon längst im Taxi saß, starrte ich immer noch ungläubig auf diesen Bahnhof, der da lag wie ein urzeitliches Ungeheuer, ein Gebirge aus grauem Granit.
Mailand war in meiner Vorstellung eine Stadt der Industrie,vielleicht auch der Mode und des Designs. Aber nicht der Mafia. Jedenfalls keiner Mafia, die man sieht. Und genau das ist es, womit sich manche Lombarden noch heute zu
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