Von Kamen nach Corleone
trösten versuchen: Sicher, die Mafia sei heute vielleicht auch schon an der Börse präsent, heißt es in Mailand, aber nicht im täglichen Leben. Die soziale Struktur der Region um Mailand sei gesund. Sie tun so, als hätte die Börse nichts mit dem Leben zu tun. Und so wird in Mailand regelmäßig gegen alles Mögliche demonstriert, was das Stadtbild stört, gegen zu viele Prostituierte, gegen zu viele Drogenhändler in einer Straße, gegen zu viele Handtaschenräuber. Aber nicht gegen die ’Ndrangheta.
Wie in Deutschland auch, kamen die Clans der ’Ndrangheta bereits vor vierzig Jahren nach Norditalien, zusammen mit den Arbeitsemigranten aus dem Süden. Heute kontrollieren die Clans den gesamten Kokainhandel in Mailand, was angesichts der Tatsache, dass Mailand der größte Kokainmarkt Italiens ist, kein unbedeutendes Geschäft ist.
Auch in Mailand profitierte die ’Ndrangheta davon, dass die Aufmerksamkeit in Italien auf die sizilianische Cosa Nostra gerichtet war. Während diese in den neunziger Jahren damit beschäftigt war, nach den Attentaten auf Falcone und Borsellino wieder in der Unsichtbarkeit zu verschwinden, machten die Clans der ’Ndrangheta in Mailand ihre Geschäfte – und hatten die Stadt bereits »kolonisiert«, wie der Bericht der Antimafiakommission des italienischen Parlaments feststellte. Wobei die Drogengelder stets Mittel zu dem Zweck sind, in die legale Wirtschaft einzusteigen, um Geschäfte und Unternehmen zu kaufen. Speziell Bauunternehmen. Denn Bauunternehmen bedeuten öffentliche Aufträge, und öffentliche Aufträge bedeuten Kontakte zu lokalen Politikern, über lokale Politikergelangt man an nationale Politiker, insbesondere, wenn man so wie die kalabrischen Clans über nahezu unbeschränkte finanzielle Möglichkeiten verfügt. Und nationale Politiker Einfluss bedeuten. Macht.
Als ich den parlamentarischen Antimafiabericht über die Macht der ’Ndrangheta in Mailand und Umgebung las, musste ich an Deutschland denken – an jene Orte, in denen die ’Ndrangheta Kolonien gegründet hat, ähnlich wie in Mailand: Duisburg, Erfurt, Stuttgart. Es gibt erstaunlich viele Parallelen zwischen Deutschland und Norditalien, vor allem was die Überzeugung betrifft, dass die Mafia ausschließlich ein Problem des rückständigen Süditaliens und der arbeitsame und aufrichtige Norden vor einer solchen Gefahr gefeit sei.
Die Bauindustrie sei die Branche, die in Mailand am häufigsten von der Mafia unterwandert sei, stellte ein Bericht der Mailänder Finanzpolizei fest, gefolgt vom Autohandel, von Bars und Restaurants, Spielhöllen, Müllwirtschaft, Diskotheken und Nachtclubs, Transportgesellschaften, Kurierdiensten, Reinigungsunternehmen. Und die Mailänder Antimafiaermittler fügten in ihrem Bericht noch die Lebensmittelunternehmen hinzu, speziell den Obst- und Gemüsehandel. Auch seien viele Wachgesellschaften von der Mafia infiltriert sowie ein großer Teil der öffentlichen Aufträge, speziell im Umland von Mailand – was im Italienischen mit dem deutschen Wort »Hinterland« bezeichnet wird.
In diesem Hinterland südwestlich von Mailand befindet sich auch die Kleinstadt Buccinasco, die in Italien zu zweifelhaftem Ruhm kam. In den siebziger Jahren war fast die Hälfte der Bevölkerung der ’Ndrangheta-Hochburg Platì nach Buccinasco gezogen und hatte es geschafft, die lombardische Kleinstadt in einen Stützpunkt der ’Ndranghetazu verwandeln, speziell dreier Clans, der Papalia, Trimboli und Sergi.
In den siebziger Jahren, den Blütezeiten der Entführungsindustrie, versteckte die ’Ndrangheta in Buccinasco viele Entführungsopfer, bevor diese weiter nach Kalabrien gebracht wurden. In den achtziger Jahren teilten sich die beiden miteinander verbündeten Clans der Sergi und Papalia bereits den gesamten Heroin- und Kokainhandel von Mailand untereinander auf, kauften hektarweise Bauland, das später zu Gewerbegebiet wurde – und versteckten flüchtige Mafiosi.
Der erste Bürgermeister, der es wagte, sich gegen die Clans zu stellen, und der keine öffentlichen Bauaufträge mehr an sie vergab, konnte sich nur noch mit Leibwächtern bewegen. Die ’Ndranghetisti steckten ihm zwei Autos in Brand und schickten ihm zu Ostern einen Umschlag mit Maschinengewehrkugeln. Sein Nachfolger hielt sich deshalb auch nicht mehr weiter damit auf, gegen die ’Ndrangheta zu kämpfen, und kündigte stattdessen eine Pressekampagne an, welche die Werte von Buccinasco in das richtige Licht stellen sollte:
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