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Von Kamen nach Corleone

Von Kamen nach Corleone

Titel: Von Kamen nach Corleone Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reski Petra
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einem Mafioso von hinten per Kopfschuss ermordet wurde. Und wenn dieser Vater kurz vor seinem Tod dem Sohn anvertraut hatte, dass er dabei sei, über einen internationalen Rauschgifthandel zu ermitteln. Und dass diese Ermittlungen lebensgefährlich sein könnten.
    Boris Giuliano war Chef des mobilen Einsatzkommandos von Palermo gewesen, einer der ersten Ermittler im modernen Sinne: einer, der fließend Englisch sprach und der als erster italienischer Polizist in einem Ausbildungskurs des FBI aufgenommen wurde, einer, der sich nicht arrangierte und bei seinen Ermittlungen keine Rücksichten auf die Befindlichkeiten einer sizilianischen Gesellschaft nahm, die stur die Existenz der Mafia zu leugnen versuchte, einer, der für eine Zeitenwende im Antimafiakampf stand.
    Am Morgen des 21. Juli 1979 wurde Boris Giuliano ermordet, in der Bar Lux, in der er immer seinen Kaffee zu trinken pflegte. Drei Tage zuvor hatte er seine Frau und seine drei Kinder in die Ferien geschickt, in ein Dorf zu Füßen des Ätnas. Alessandro Giuliano erfuhr im Radio von der Ermordung seines Vaters. Später kam die Polizei und brachte die Familie nach Palermo zurück. Bei der Beerdigung gab es Pfiffe für die Politiker. Und ein Spruchband: »Die Via dei Biscottari trauert. Wir waren alle Freunde von Boris Giuliano«.
    Boris Giuliano hatte enthüllt, dass sich Palermo Ende der siebziger Jahre zum Drehkreuz des internationalen Heroinhandels entwickelt hatte. Das »Theorem Giuliano« besagte, dass die Mafia Opium aus dem Goldenen Dreieck zwischen Thailand, Laos und Burma importierte, in Palermo zu Heroin raffinierte und dann nach Amerika weiterverkaufte – und es wäre ein Theorem geblieben, wenn Giuliano nicht sowohl das Heroin als auch das Geld aufgespürt hätte: das Heroin in Motorbooten unweit einer Uferstraße in Palermo und am John-F.-Kennedy-Flughafen in New York, das Geld der amerikanischen Mafiosi in einem Koffer auf dem Rollband des Flughafens von Palermo.
    Als Giulianos Männer in den Motorbooten vier Kilo reinsten Heroins mit einem damaligen Marktwert von 1,5 Millionen Euro beschlagnahmten, hatten sie auch ein Waffenarsenal ausgehoben. Beides gehörte dem Mafioso Leoluca Bagarella aus dem Clan der Corleonesen – der gerade dabei war, zusammen mit seinem Schwager, dem Boss Totò Riina, einen blutigen Mafiakrieg um die Macht in Palermo zu führen. Jener Leoluca Bagarella, dem ich viele Jahre später im Gerichtssaal von Caltanissetta begegnen sollte und dessen Blick mich verfolgte.
    Ende der siebziger Jahre gab es in Palermo fast jedenTag Tote. Nicht nur unter den Mafiosi, sondern auch unter Staatsanwälten, Richtern, Polizisten. Boris Giuliano war einer der ersten. Als Alessandro Giuliano achtzehn Jahre alt war, sagte er im Maxiprozess aus. Er bezeugte die Befürchtungen seines Vaters, dass seine Ermittlungen über den Drogenhandel lebensgefährlich seien.
    Als Alessandro Giuliano neunzehn Jahre alt war, wurde der Polizist Beppe Montana, rechte Hand seines Vaters Boris, von einem Mafioso ermordet. Nur einen Monat später wurde ein weiterer Polizist der Squadra mobile erschossen: Ninni Cassarà. Nach der Festnahme des Mörders von Beppe Montana kam es zu Übergriffen, die Polizisten verloren die Kontrolle und schlugen den Mafioso so zusammen, dass er starb. Danach wurden die Beamten strafversetzt, was für die von Boris Giuliano aufgebaute Squadra mobile von Palermo das Ende bedeutete.
    Als Alessandro Giuliano zweiundzwanzig Jahre alt war, trat er in den Polizeidienst ein und verließ Sizilien. Als er fünfundzwanzig Jahre alt war, wurden Giovanni Falcone und Paolo Borsellino ermordet. Als Alessandro Giuliano siebenundzwanzig Jahre alt war, wurde der Mörder seines Vaters, der flüchtige Mafioso Leoluca Bagarella, festgenommen.
    Aber zu all dem sagte Alessandro Giuliano nichts. Er sagte nur: »Nein, das ist nicht mein Vater«, als ich ihn nach dem Porträt fragte, das neben den Fotos von Falcone und Borsellino über dem Schreibtisch hing. Es war das Porträt eines Mannes mit Zigarette, ein Schnappschuss, grob körnig vergrößert, ein privates Bild. »Das ist Beppe Montana«, sagte Alessandro Giuliano. »Er war für mich wie ein Vater, ich bin doch praktisch in der Squadra mobile aufgewachsen.«
    Mehr sagte er nicht. Und ich saß da und schwieg unddachte: Eigentlich hat er recht. Eigentlich ist nichts zu sagen. Warum sollte er mir, einer Fremden, auch erzählen, wie es ist, wenn man mit zwölf erwachsen wird? Wenn man erlebt, dass die

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