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Von Lichtwiese nach Dunkelstadt

Von Lichtwiese nach Dunkelstadt

Titel: Von Lichtwiese nach Dunkelstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ivar Leon Menger , John Beckmann
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schnell, wie er gekommen war.
    „Hast du nicht“, schnurrte der Katzenbaum. „Aber du würdest sie gerne einmal küssen, oder?“
    Samuel schaute zu Boden und vergrub seine Hände in den Hosentaschen. „Ich hab sie aber wirklich geküsst.“
    „Ist schon gut, Samuel“, sagte ich und legte ihm meine Hand auf die Schulter.
    Er schüttelte sie ab, ohne aufzusehen und zog mit der Schuhspitze Linien durch die staubige Erde.
    „Sehr geehrter Katzenbaum“, sagte ich und versuchte, meine Stimme fest und erwachsen klingen zu lassen, doch es wollte mir einfach nicht gelingen. „Wir sind zu Ihnen gekommen, weil ich eine wichtige Frage an Sie habe.“
    „Genauso wie viele anderen vor dir“, miaute der Katzenbaum. „Und ich konnte alle ihre Fragen beantworten. Aber sie mussten dafür bezahlen. Nichts im Leben ist umsonst. Das weißt du doch – oder, Dodo? Für jede Antwort musst du bezahlen.“
    „Und … und wie viel?“, fragte ich und ärgerte mich über das Zittern in meiner Stimme.
    „Das kommt ganz auf deine Frage an“, schnurrte der Katzenbaum und seine Blätter knisterten vor Vorfreude, während die langen, dünnen Äste auf und ab wippten.
    „Gib ihm nichts!“, rief Samuel trotzig und kickte einen kleinen Stein den Hügel hinunter. „Er lügt dich sowieso an. Der doofe Baum weiß nämlich überhaupt nichts! Nicht einmal, dass ich Lilly geküsst hab!“
    „Aber das war doch nur ein Scherz“, schnurrte der Katzenbaum. „Natürlich hast du Lilly geküsst. Letzte Woche in der Pause vom Windspringen. Ich weiß das – jeder weiß das. Hab keine Angst. Ich bin nichts weiter als ein einsamer alter Baum. Aber vielleicht können wir ja trotzdem Freunde sein?“
    Samuel sah auf. „Sie wollen mein Freund sein?“
    Er hatte nicht viele Freunde. Eigentlich war ich sein einziger.
    „Sehr, sehr gerne sogar“, miaute der Katzenbaum. „Warum kommst du nicht mal her und streichelst mein Fell. Du wirst erstaunt sein, wie weich es ist.“
    „Bleib hier, Samuel“, flüsterte ich. „Geh nicht näher heran.“
    Doch Samuel hörte nicht auf mich. Er trat einen Schritt vor und nahm die Hand aus der Tasche. Er wollte über einen der langen, fellbedeckten Äste streichen. Ein Zittern durchfuhr den Baum, die Blätter wisperten, etwas Weißes blitzte zwischen ihnen auf, und ich griff nach Samuels Arm und zog ihn mit aller Kraft zurück.
    „Nicht anfassen!“, rief ich. „Sonst packt er dich!“
    „Sonst packt er mich?“ Ungläubig sah Samuel erst mich und dann den Baum an, der jetzt wieder völlig regungslos auf der Lichtung stand.
    „Mit seinen langen Ästen“, sagte ich. „Er packt dich und dann frisst er dich!“
    „Er frisst Kinder?“
    Ein Schaudern durchfuhr das Blattwerk, und Samuel nickte. Er hatte verstanden. Trotzdem ließ ich seinen Arm erst wieder los, als er einen Schritt zurücktrat.
    „Du Spielverderber!“, fauchte der Katzenbaum, und dieses Mal waren die scharfe Fangzähne ganz deutlich zu sehen. „Ich wollte doch nur ein bisschen an ihm knabbern! Kinder schmecken nun mal am besten.“ In der Baumkrone ertönte ein hohles Klappern, als würden große Zähne aufeinanderschlagen. „Aber genug davon. … Also, Junge, was ist mit deiner Frage?“
    „Ich … ich würde gerne wissen …“, sagte ich und verstumme. Mein Herz schlug bis zum Hals. „Ich würde gerne wissen, ob meine Eltern noch leben?“, setzte ich von neuem an. „Und wo ich sie finden kann?“
    „Das ist eine sehr, sehr schwierige Frage“, brummte der Katzenbaum.
    „Aber Sie können sie mir doch beantworten, oder?“
    Die fellbedeckten Äste federten leicht auf und ab, die Blätter wisperten. „Ja, das kann ich.“
    „Dann sagen Sie es mir! Bitte!“
    „Das ist nicht so leicht“, miaute der Katzenbaum. „Dass mit deinen Eltern … das ist ein großes Geheimnis, musst du wissen.“
    „Das sagt mir jeder!“, rief ich. „Aber niemand sagt mir, was das Geheimnis ist! Bitte, Herr Katzenbaum, verraten Sie es mir!“
    Ein tiefes Schnurren ertönte. „Also gut … Ich sage dir die Wahrheit, ich verrate dir das Geheimnis. Aber was bekomme ich dafür?“
    „Ich gebe Ihnen alles, was ich habe“, sagte ich und beeilte mich, die blauen, grünen und roten Münzen aus meinen Hosentaschen hervorzuholen. „27 Blaukronen und 14 Fuchspfennige“, zählte ich von der rechten in die linke Hand.
    „Das reicht nicht“, fauchte der Katzenbaum.
    „Hier“, sagte Samuel und legte einige Geldstücke dazu. „Das sind zwölf Blaukronen.

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