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Von Lichtwiese nach Dunkelstadt

Von Lichtwiese nach Dunkelstadt

Titel: Von Lichtwiese nach Dunkelstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ivar Leon Menger , John Beckmann
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nicht. Meine Beine fühlten sich plötzlich an wie zwei prall gefüllte Wassersäcke. Ich stützte mich an der Wand ab und sah zum Wohnzimmer. Hinter der breiten Glasscheibe lag der Garten in der Morgendämmerung.
    „Worauf wartest du?“, rief Strom-Tom aufgeregt. „Der Typ wird nicht ewig im ersten Stock nach dir suchen!“
    Ich konnte nicht weglaufen, ich konnte nicht fliehen. Die Angst saß zu tief in meinen Beinen und ließ mich zittern und schwanken.
    Die Stiefel über mir entfernten sich schon wieder Richtung Treppe.
    „Schnell!“, schrie Strom-Tom. „Versteck dich irgendwo!“
    Ich öffnete die Standuhr, hockte mich hinein und zog die Tür zu.
    „Wir müssen jetzt ganz still sein“, flüsterte ich in das gleichmäßige Ticken des Pendels hinein. „Wir sitzen im Uhrenkasten.“
    „Wie kommt man denn auf so ein blödes Versteck?“, zischte Strom-Tom.
    „Weil nur das Geißlein, das sich im Uhrenkasten versteckt hat, vom Wolf nicht gefressen wurde. Na ja … und weil es das nächstliegende Versteck war.“
    „Wovon quasselst du da bitte?“
    „Kennst du nicht das Märchen von den sieben Geißlein?“
    „Nee, kenn ich nicht“, sagte Strom-Tom. „Aber ich kenn das Märchen vom bleichen Mann, der aus der Standuhr kommt und den Leuten Tarotkarten bringt. Das würde dir bestimmt –“
    „Psst! Er kommt!“, fiel ich ihm ins Wort.
    Die schweren Stiefel kamen näher. Ich schloss die Augen und betete, dass das dumpfe Stampfen nicht vor der großen Standuhr verstummen würde. Jeden Moment rechnete ich damit, entdeckt zu werden. Doch es geschah nicht. Das Ticken des Pendels wurde langsamer, genauso wie die Schritte im Haus, aber wahrscheinlich bildete ich mir das nur ein. Irgendwann war da nur noch das Ticken, und die Tür des Uhrenkastens war noch immer nicht aufgerissen worden.
    „Ist er weg?“, fragte Strom-Tom vorsichtig.
    „Vielleicht wartet er auch nur darauf, dass wir herauskommen“, flüsterte ich.
    „Nee, der denkt, du bist abgehauen. Sonst würde der doch weitersuchen.“
    „Ich weiß nicht so recht …“
    „Wir können nicht ewig hierbleiben, Dodo.“
    „Ich weiß. … Aber vielleicht wenigstens so lange, bis es dunkel wird.“
    „Bis es dunkel wird? Bist du bekloppt? Das sind noch locker zwölf, vierzehn Stunden!“
    Ein ohrenbetäubendes Läuten erfüllte den Uhrenkasten und beendete die Diskussion.
    „Verdammt, was ist das?“, schrie Strom-Tom.
    Ich presste meine Hände auf die Ohren und schrie zurück: „Die Uhr schlägt jede volle Stunde.“
    Es folgten drei weitere Trommelfell erschütternde Glockenschläge, Strom-Tom schrie: „Raus hier, raus hier, raus hier!“, und ich drückte die Tür auf und sackte mit angezogenen Knien in den Flur hinaus. Der siebte Schlag verhallte, und ich stand mit knackenden Gelenken auf. Davon abgesehen war es still im Haus.
    „Ich muss nach Omi suchen.“
    „Hier ist sie nicht. Soviel steht fest.“
    „Aber vielleicht finde ich irgendwelche Hinweise“, sagte ich und humpelte mit steifen Knochen zur Treppe.
    Strom-Tom protestierte nicht.

Ein Ende mit Schrecken

    Die Zimmer im ersten Stock waren ziemlich verwüstet. Vorhänge waren herabgerissen, Betten verschoben und Schränke durchwühlt worden. Auf dem Boden lagen Kleidungsstücke verstreut. Glücklicherweise hatte der Soldat nicht mit demselben Eifer auch das Erdgeschoss durchsucht.
    Mein Blick glitt über all die Unordnung und blieb beim großen Schlafzimmerfenster hängen.
    „Wir … wir müssen noch im Holo-Raum sein“, sagte ich schwach.
    „Nein, Dodo, unmöglich“, entgegnete Strom-Tom. „Wir sind zurück in der Realität.“
    Mein Mund öffnete und schloss sich wieder.
    „Wieso?“, fragte Strom-Tom. „Was ist denn los?“
    „Das Dorf …“ Mehr brachte ich nicht heraus.
    Es war verschwunden, das Dorf. Die Häuser auf der anderen Straßenseite existierten nur noch zur Hälfte. Ein riesiger Stacheldrahtzaun ragte über den halbierten Spitzdächern empor. Dahinter lag die Fabrik. Sie war lang wie ein Fußballstadion und hoch wie eine Bohrinsel. Überall stießen Schornsteine und Rohre in den rauchverhangenen Himmel und spien Qualm und Feuer. Dort, wo gestern noch die Grundschule gestanden hatte, türmte sich jetzt ein riesiger Berg aus Fässern auf. Roboterartige Wesen pendelten zwischen der Fabrik und dem Fässerberg hin und her. Menschen oder Tiere konnte ich nirgendwo entdecken.
    „Das darf nicht die Realität sein …“
    Schwere Stiefel trampelten die Treppe hinauf. Als

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