Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Von Lichtwiese nach Dunkelstadt

Von Lichtwiese nach Dunkelstadt

Titel: Von Lichtwiese nach Dunkelstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ivar Leon Menger , John Beckmann
Vom Netzwerk:
von seinem Kinn.
    „Dann lauf doch nach Hause, wenn du solche Angst hast!“
    Eine Kolibri-Ente erhob sich aufgeregt schnatternd in die Lüfte.
    „Du Angsthase!“, schrie ich Samuel an, weil er sich noch immer nicht rührte, und weil auch ich auf einmal so ein komisches Gefühl im Magen hatte.
    „Ich bin kein Angsthase“, sagte Samuel.
    „Dann komm jetzt! Beweis es!“
    Ich ließ ihn stehen und suchte die Baumwurzel nach einer geeigneten Stelle zum Hochklettern ab. Dann stieg ich hinauf.
    „Dodo, warte auf mich!“, rief Samuel und kletterte hinterher.
    Zwischen den Wurzeln klafften schwarze Spalte, die so tief waren, dass man den Boden nicht sehen konnte. Die anderen Kinder erzählten sich, dass dort unten Salamander-Spinnen lebten; achtbeinige, untertellergroße Tiere, die ungeduldig züngelnd darauf warteten, dass jemand zu ihnen hinunterfiel. Aber daran glaubte ich natürlich nicht. Schließlich war ich schon sechs und kein kleines Baby mehr. Trotzdem klopfte mein Herz bis zum Hals, als ich mich an den Rand der Wurzel stellte.
    „Vielleicht … vielleicht gibt es noch einen anderen Weg“, sagte Samuel. „Wir könnten es außen herum versuchen.“
    „Es gibt keinen anderen Weg“, sagte ich und schaute hinauf in die Baumkronen, zwischen deren Blättern die Sonnenstrahlen glitzerten. „Guck einfach nicht nach unten.“
    Und dann sprang ich, klammerte mich an die Rinde der nächsten Wurzel, um nicht herunterzufallen, stand gleich wieder auf und sprang zur übernächsten – immer weiter, bis ich schließlich den Waldboden auf der anderen Seite erreicht hatte. Meine Hände waren rot und brannten, doch das bemerkte ich kaum. Ich hatte es geschafft.
    „Wir sind da“, sagte ich, als Samuel mich eingeholt hatte.
    In der Mitte der kleinen Lichtung ragte ein einzelner Baum auf. Er stand auf einem Hügel, trotzdem wirkte er wie ein Winzling zwischen all den Krakraks, die ihn in sicherem Abstand umringten. Alles an ihm war von dichtem fliederfarbenem Haar bedeckt: der kurze Stamm, die spitzen Blätter und die langen, dünnen Äste, die an die Finger eines alten Mannes erinnerten
    „Ist er das?“, fragte Samuel. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Ist das der Katzenbaum?“
    Ich nickte. „Ja.“
    Wir betraten die Lichtung und gingen die Anhöhe hinauf. Der Boden war kahl, noch nicht einmal Gras wuchs hier. Ein tiefes, wohliges Schnurren hallte uns entgegen. Es schien aus dem dichten Blattwerk der Baumkrone zu kommen. Mit jedem Schritt wurde das Schnurren lauter. Es war wirklich angenehm in den Ohren.
    „Er hat ja sogar Fell!“, sagte Samuel und sah mit großen Augen zum Baum hinauf. „Wie eine richtige Katze. Komm, wir gehen näher heran!“
    Er schien auf einmal überhaupt keine Angst mehr zu haben.
    „Dodo, komm!“
    Ich schüttelte den Kopf. „Das ist zu gefährlich.“
    „Warum? Das ist doch nur ein Baum.“
    „Nein“, flüsterte ich. „Er ist viel mehr als nur ein Baum.“
    „Wie meinst du das?“, fragte Samuel und sah mich an.
    Ich antwortete nicht. Das Schnurren war verstummt. Er hatte uns bemerkt.
    „Hallo, meine Hübschen“, drang eine tiefe Stimme zwischen den Blättern hervor.
    Samuel zuckte erschrocken zusammen. „Er kann sprechen?!“
    „Ja“, sagte ich. „Er kann sprechen, und er weiß alles.“
    „Das stimmt, Dodo“, schnurrte der Katzenbaum.
    „Er kennt deinen Namen!“, rief Samuel, und auf einmal war er wieder sehr blass.
    „Er weiß alles“, sagte ich noch einmal. „Alles über Lichtwiese und alles über uns.“
    „Das stimmt“, miaute der Katzenbaum.
    Wenn er sprach, raschelten seine Blätter, und einen kurzen Moment lang schimmerte etwas Weißes in der dichten Baumkrone. So als würde sich dort ein Maul voller scharfer weißer Zähne befinden.
    Samuel legte die Stirn in Falten. „Weiß er dann auch … dass ich letzte Woche Lilly geküsst habe?“
    Ich dachte an Lilly mit ihren abstehenden Ohren, an ihr Lachen und daran, wie sie auf ihrer Unterlippe kaute, wenn sie nervös war. In meiner Brust steckte plötzlich ein heißer Stein und für einen Augenblick vergaß ich sogar, warum wir hierher gekommen waren.
    „Hast du nicht!“, stieß ich hervor.
    „Hab ich wohl“, sagte Samuel und pustete sich die verschwitzten Locken aus der Stirn. „In der Pause vom Windspringen.“
    „Hat er nicht“, brummte der Katzenbaum.
    „Hab ich wohl!“, rief Samuel noch einmal, doch ich sah, dass er log, und der glühende Stein in meiner Brust verschwand so

Weitere Kostenlose Bücher