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Von Lichtwiese nach Dunkelstadt

Von Lichtwiese nach Dunkelstadt

Titel: Von Lichtwiese nach Dunkelstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ivar Leon Menger , John Beckmann
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Schweigen nicht mehr aushielt.
    „Wir warten bis Mitternacht“, sagte Agerian. „Und dann wünschen wir uns weg von hier.“
    „Wie spät ist es denn?“, fragte ich und fürchtete mich vor der Antwort.
    „Kurz vor sieben“, antwortete Strom-Klaus. „Noch über fünf Stunden.“
    Noch fünf Stunden, dachte ich. Noch fünf Stunden und alles würde gut werden.
    Wir mussten nur am Leben bleiben.

Die Zeit bis Mitternacht

    Rücken an Rücken saßen Agerian und ich in dem Gang zwischen den Sitzen und starrten jeweils eine der beiden Waggontüren an. Ich versuchte, mich zu erinnern, wie viele Nächte ich schon nicht mehr geschlafen hatte. Es waren eindeutig zu viele gewesen. Eine bleierne Müdigkeit zog meinen Kopf nach vorne zur Brust.
    Agerian ging es nicht besser. Wir stießen uns gegenseitig mit den Ellbogen in die Rippen, um wach zu bleiben und spielten Zahlen raten in der Hoffnung, dass die Zeit dann schneller vergehen würde.
    Elenor saß schweigend auf ihrem Fensterplatz. Sie glaube nicht an Gespenster, hatte sie verkündet. Seitdem hatte sie nichts mehr gesagt. Ich wünschte mir, dass sie zu singen anfing. Oder auf einem Bein zu springen. Oder „Öde, öde, öde!“ zu schreien, denn genau das war es. Unglaublich öde.
    „Dreizehn“, murmelte Agerian.
    „Kleiner“, sagte ich.
    „Zehn …“
    „Kleiner.“
    Agerian riet nicht weiter, also stieß ich ihm meinen Ellbogen in die Seite.
    „Acht.“
    „Kleiner.“
    „Das bringt keinen Spaß, Dodo.“
    „Ich weiß.“
    Leider war Zahlen raten neben Ich sehe was, was du nicht siehst das einzige Spiel, welches sowohl Agerian als auch ich kannten. Um dem anderen die Regeln eines neuen Spiels zu erklären, fehlte uns beiden die Kraft. Ich sehe was, was du nicht siehst schied leider ebenfalls aus, da das Innere des Waggons vollständig aus verschiedenen Grautönen bestand und es außerdem lebensnotwenig war, dass Agerian und ich in unterschiedliche Richtungen guckten. Blieb also nur Zahlen raten.
    „Vielleicht sollten wir eine Pause machen“, schlug Agerian vor.
    „Okay. Aber nicht einschlafen.“
    „Du auch nicht.“
    „Ich kann euch Stromstöße geben“, bot Strom-Tom an.
    „Danke, geht schon“, sagte ich. „Es wäre übrigens fünf gewesen.“
    „Ah …“, machte Agerian.
    „Warst nah dran.“
    „Ja.“
    Damit war alles gesagt. Abgesehen davon, dass wir Strom-Klaus regelmäßig nach der Uhrzeit fragten, saßen wir schweigend da. Es wurde acht, neun, zehn und schließlich elf. Ich blinzelte immer häufiger, meine Augen brannten. Die Luft schien aus unendlich vielen, winzig kleinen Sandkörnern zu bestehen. Die Blinzler wurden länger, und ich klatschte mir mit der flachen Hand ins Gesicht. Der Schmerz vertrieb die Müdigkeit. Jedoch nie für lange.
    „Ich glaube, ich war noch nie so durstig“, sagte Agerian und schmatzte trocken.
    „Und du lebst schließlich in der Wüste“, entgegnete ich.
    „Wie kommst du denn darauf?“
    Ich setzte mich aufrecht hin und drückte die Schultern durch. „Ihr seid doch Beduinen, oder nicht? Ich meine, ihr lebt in Zelten.“
    „Aber nur im Sommer. Im Winter ist das viel zu kalt. Da lebe ich in meinem Zwölfzimmerappartement in der Stadt.“ Agerian rappelte sich auf und zeigte zum Tisch. „Kannst du mir eine Eskimonade geben?“
    Ich konnte die Flaschen aus dem Augenwinkel sehen, traute mich jedoch nicht, zur Seite zu gucken. „Ich kann‘s versuchen.“
    „Warte“, sagte Elenor. „Ich helfe euch.“
    Zwei Flaschen verschwanden aus meinem Blickfeld. Kurz darauf erklang ein prickelndes Zischen.
    „Hier“, sagte Elenor und drückte mir eine Flasche in die Hand. Sie war noch immer eisgekühlt.
    „Danke“, sagte ich.
    „Danke“, sagte auch Agerian.
    Wir verzichteten aufs Anstoßen. Es wäre zu gefährlich gewesen. Die Eskimonade schmeckte leicht bitter und war einfach wunderbar. Ich trank sie in drei langen Zügen aus. Danach hielt ich die Flasche auf Kinnhöhe, sodass am Rande meines Gesichtsfelds das Etikett erkennen konnte, sie mir aber trotzdem nicht die Sicht auf die Waggontür versperrte. Unter dem Schriftzug aus zitrusgelben Buchstaben befand sich etwas, das wohl eine Eis-Landschaft darstellen sollte.
    Eskimonade, dachte ich, lustiger Name. Limonade von Eskimos. Deshalb blieb sie auch so lange kühl. Oder war es Limonade aus Eskimos? Das wäre dann nicht mehr ganz so lustig, würde aber ebenfalls die niedrige Temperatur erklären. Meine Gedanken entglitten mir und flogen davon wie

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