Von Liebe und Gift
nickte. „Ja, aber die letzten wichtigen Scheine habe ich nicht bekommen. So werde ich nie zur Ärztlichen Vorprüfung zugelassen.“
Er senkte den Kopf, als würde er sich schämen.
„Die Angst um Neal in den letzten Wochen hat mir keine Ruhe gelassen. Und dann der Stress mit meinen Eltern. Wenn die erfahren, dass ich dieses Semester nicht packe, werden sie sicher noch enttäuschter von mir sein.“
Francis legte mitfühlend eine Hand auf seine Schulter. „Ach, sie werden sicher Verständnis zeigen. Medizin ist doch auch ein schwieriges Fach.“
Gero schüttelte jedoch den Kopf. „Nein, daran liegt es nicht. Es liegt an mir, weil ich nichts geregelt bekomme, seitdem es Neal so schlecht geht. Es macht mich ganz krank.“
Francis verkrampfte sich. Erneut stieg die Wut und Verzweiflung in ihr auf. Sie merkte schon seit ein paar Tagen, dass sie überhaupt keinen Funken Verständnis mehr für ihren Bruder hatte.
„Es ist unglaublich, was er sich derzeit leistet“, sagte sie deshalb. „Nun wirkt sich sein Verhalten schon negativ auf dein Studium aus.“
Unzufrieden berichtete sie weiter: „Weißt du, was ich noch erfahren habe? Neal hat tatsächlich die Konzerte abgesagt und seinen Kollegen erzählt, er sei krank. Er lügt sie an! Er erzählt nicht die Wahrheit!“
Gero wand sich ein bisschen. Er war sich längst nicht so sicher, wie Francis.
„Neal kann doch nichts dafür. Er ist da so reingerutscht“, versuchte er die ganze Lage zu erklären. „Drogen sind heimtückisch. Ich kann verstehen, dass er solche Probleme hat, davon loszukommen.“
Francis wirkte fassungslos. „Du schützt ihn immer noch?“ Sie konnte es einfach nicht glauben.
Der Pförtner der Inneren Medizin wollte gerade den Fernseher einschalten, um sich einen Spätfilm anzusehen, als plötzlich eine dunkle Gestalt vor die Glasscheibe trat und heftig an die Scheibe klopfte.
Der Pförtner schob die Glasscheibe zur Seite und sah den Mann an.
„Was wollen Sie?“, fragte er.
„Ich muss rein“, sagte der Mann. Es klang hektisch. „Lassen Sie mich rein.“
„Die Besuchszeiten sind vorbei“, sagte der Pförtner. „Ich darf Sie nicht reinlassen. - Oder sind Sie Patient?“
Der Mann vor der Glasscheibe verneinte, ließ aber nicht locker.
„Bitte, lassen Sie mich rein. Ich möchte meinen Freund besuchen, der arbeitet hier.“
Der Pförtner runzelte die Stirn. „Das kann ja jeder sagen“, erwiderte er und schüttelte den Kopf. „Tut mir leid. Kommen Sie doch morgen wieder.“
„Aber ich muss rein!“ Der Mann wurde lauter. Ohne Vorwarnung kam er näher ans Pförtnerhäuschen heran, um den Pförtner am Kragen zu packen. „Lassen Sie mich rein, sonst passiert was!“
Gero war dabei den frisch geputzten Medikamentenschrank einzuräumen, als das Telefon im Stationszimmer ging.
Er nahm ab. „Steinert. Station 6. - Was? Sind Sie nicht ganz dicht? Sie können doch keinen Fremden hereinlassen!“ Gero griff sich an den Kopf. So etwas hatte ihm gerade noch gefehlt. „Er hat Sie bedroht? - Und ist er auf dem Weg zu den Stationen, ja? - Hören Sie, Sie müssen die Polizei informieren ...“
Gero unterbrach und stutzte. Er hörte Schritte auf dem Stationsflur. Augenblicklich begann sein Herz aufgeregt zu schlagen. Doch plötzlich sah er Neal, der lächelnd ins Stationszimmer blickte.
„Hallo!“
„Du?“ Gero konnte keine Worte fassen, dann griff er wieder zum Telefon. „Es ist alles in Ordnung. Sie müssen nicht die Polizei rufen. Es handelt sich wirklich um meinen Freund. - Ja, tut mir leid, dass er Sie belästigt hat. Das wird nicht wieder vorkommen.“
Er legte auf und atmete tief durch.
„Was willst du hier - mitten in der Nacht?“ Fassungslos sah er Neal an. „Wieso hast du den Pförtner bedroht? Der wollte die Polizei rufen! Ist dir das bewusst?“
Noch immer hegte er Angst in sich, dass Neal irgendwann einen Fehler machen und die Polizei auf ihn aufmerksam werden würde. „Musst du so etwas riskieren? Das mit meinen Eltern ist längst nicht aus der Welt!“
Neal zuckte mit den Schultern. „Wenn er mich nicht reinlässt?“ Er lächelte charmant und kam näher. „Ich wollte doch bloß zu dir.“
Mit seiner Hand strich er über Geros Wange. Dieser errötete sofort.
„Was willst du denn?“, fragte er zögerlich. „Ich muss arbeiten.“
„Weiß ich doch“, sagte Neal. „Aber morgen schläfst du wieder den ganzen Tag wegen der Nachtschicht. Da dachte ich, ich komme jetzt mal vorbei.“
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