Von meinem Blut - Coben, H: Von meinem Blut - Long Lost
an das ich mich erinnern kann? Ich hab dem Schwein den Revolver unters Kinn gehalten und abgedrückt.
Da ist aber noch etwas, irgendwo ganz weit hinten in meinem Gehirn. Ich komm nicht dran. Vielleicht ein Traum. Sie kennen das– man wacht auf, und der Alptraum war so verteufelt echt, aber noch während man sich zu erinnern versucht, merkt man, wie die Erinnerung sich verflüchtigt wie Rauch im Wind. Das passiert mir gerade. Ich versuche, die Bilder festzuhalten, aber sie verblassen.
» Myron?«
Die Stimme ist ruhig, gedämpft. Ich fürchte mich vor der Stimme. Ich zucke zusammen. Ich empfinde furchtbare Scham, weiß aber nicht, warum.
Meine Stimme klingt selbst in meinen eigenen Ohren unterwürfig. » Ja?«
» Den größten Teil von dem, was hier passiert, werden Sie sowieso vergessen. Das ist auch besser so. Niemand wird Ihnen glauben– und selbst wenn, wird man uns nicht finden. Sie wissen nicht, wo wir sind. Sie wissen nicht, wie wir aussehen. Und vergessen Sie eins nicht: Wir können das wiederholen. Wir können Sie jederzeit aufgreifen, wenn uns danach ist. Und nicht nur Sie. Auch Ihre Familie. Ihre Mutter und Ihren Vater unten im Miami. Ihren Bruder in Südamerika. Haben Sie verstanden?«
» Ja.«
» Also lassen Sie es einfach gut sein. Wenn Sie sich daran halten, wird Ihnen nichts passieren, okay?«
Ich nicke. Meine Augen verdrehen sich in den Höhlen. Ich gleite zurück in die Dunkelheit.
23
Ich wachte verängstigt auf.
Das war gar nicht meine Art. Mein Herz raste. Panik drückte mir die Brust zusammen. Und all das, bevor ich überhaupt die Augen geöffnet hatte.
Als ich schließlich blinzelnd die Augen aufbekam– als ich mich im Zimmer umsah– spürte ich, wie mein Herzschlag sich beruhigte und die Panik abflaute. Esperanza saß auf einem Stuhl und beschäftigte sich mit ihrem iPhone. Ihre Finger tanzten über die Buchstaben– zweifelsohne schrieb sie einem unserer Klienten etwas. Ich arbeite gerne, sie jedoch ist völlig vernarrt in unsere Arbeit.
Ich sah ihr einen Moment lang zu, weil dieser wohlbekannte Anblick mich beruhigte. Esperanza trug eine weiße Bluse unter dem grauen Kostüm, hatte Kreolen in den Ohren und die blauschwarzen Haare dahintergeklemmt. Das Rouleau am Fenster hinter ihr war offen. Es war dunkel draußen.
» An welchen Klienten schickst du das?«, fragte ich.
Ihre Augen weiteten sich, als sie meine Stimme hörte. Sie warf das iPhone auf den Tisch und war mit einem Satz an meiner Seite. » O mein Gott, Myron. O mein Gott…«
» Was ist, muss ich sterben?«
» Nein, wieso?«
» Wie du hier so rübergehüpft bist. So schnell bist du sonst nicht.«
Sie fing an zu weinen und gab mir einen Kuss auf die Wange. Esperanza weinte nie.
» Na ja, ich muss wohl im Sterben liegen.«
» Jetzt benimm dich nicht wie ein Vollidiot«, sagte sie und wischte sich die Tränen von den Wangen. Sie umarmte mich. » Ach, warte. Doch, benimm dich ruhig wie ein Vollidiot. Benimm dich wie der wunderbare Vollidiot, der du nun einmal bist.«
Ich sah ihr über die Schulter. Ich lag in einem ganz normalen Krankenhauszimmer. » Wie lange sitzt du da schon?«, fragte ich.
» Nicht lange«, sagte Esperanza, die mich immer noch in den Armen hielt. » An was erinnerst du dich?«
Ich überlegte. Die Schüsse auf Terese und Karen. Der Typ, der Karen umgebracht hatte. Den ich dann erschossen hatte. Ich schluckte und sammelte mich. » Wie geht’s Terese?«
Esperanza ließ mich los und richtete sich auf. » Ich weiß es nicht.«
Mit der Antwort hatte ich nicht gerechnet. » Wieso weißt du das nicht?«
» Das ist ziemlich schwer zu erklären. Was ist das Letzte, woran du dich erinnern kannst?«
Ich konzentrierte mich. » Meine letzte klare Erinnerung«, sagte ich, » ist, dass ich diesen Schweinehund umgebracht habe, der auf Terese und Karen geschossen hat. Dann hat sich eine Horde Männer auf mich gestürzt.«
Sie nickte.
» Ich hab auch eine Kugel abgekriegt, oder?«
» Ja.«
Das erklärte, warum ich im Krankenhaus lag.
Esperanza beugte sich wieder zu mir herab und flüsterte mir ins Ohr: » Okay, jetzt hör mir mal kurz zu. Wenn die Tür aufgeht und eine Schwester oder sonst irgendjemand reinkommt, sag nichts, solange sie da ist. Hast du verstanden?«
» Nein.«
» Befehl von Win. Tu’s einfach, okay?«
» Okay.« Dann sagte ich: » Du bist extra nach London geflogen, um bei mir zu sein?«
» Nein.«
» Was nein?«
» Vertrau mir, okay? Lass dir Zeit. Woran erinnerst du dich
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