Von meinem Blut - Coben, H: Von meinem Blut - Long Lost
Ja, ich war tatsächlich von einer Kugel getroffen worden. Sie hatte meine rechte Körperseite oberhalb der Hüfte durchschlagen. Aber die Wunde sei fachgerecht und gut versorgt worden.
» Wäre dafür ein sechzehntägiger Krankenhausaufenthalt erforderlich gewesen?«, fragte ich.
Der Arzt sah mich seltsam an, wunderte sich wohl darüber, dass ich mehr oder weniger gerade erst bewusstlos mit einer Schusswunde im Krankenhaus eingeliefert worden war und jetzt etwas von sechzehn Tagen faselte– höchstwahrscheinlich überlegte er auch, ob er einen Psychiater einschalten sollte.
» Also rein hypothetisch«, fügte ich rasch hinzu, als mir Wins Warnung wieder einfiel. Ich stellte dann keine weiteren Fragen, sondern konzentrierte mich ganz darauf, viel zu nicken.
Dad blieb während der gesamten Entlassungsformalitäten bei mir. Esperanza hatte einen meiner Anzüge in den Schrank gehängt. Ich zog ihn an und fühlte mich körperlich ziemlich gut. Ich wollte ein Taxi nehmen, aber Dad bestand darauf, mich zu fahren. Früher war er ein sehr guter Fahrer gewesen. Als ich klein war, hatte er am Steuer diese Lockerheit ausgestrahlt, leise mit den Stücken im Radio mitgepfiffen und mit den Handgelenken gelenkt. Jetzt blieb das Radio aus. Er spähte angestrengt auf die Straße und bremste viel häufiger.
Als wir am Lock-Horne Building an der Park Avenue waren– noch einmal, Wins voller Name lautet Windsor Horne Lock wood III., den Rest können Sie sich selbst denken–, sagte Dad: » Soll ich dich nur eben absetzen?«
Manchmal kann ich nicht anders, als Ehrfurcht vor meinem Vater zu empfinden. Im Vater-Sohn-Verhältnis dreht sich alles darum, die richtige Balance zu wahren, aber wie bekam dieser Mann das so mühelos und dabei so gut hin? Mein Leben lang hatte er mich zu Höchstleistungen angetrieben, ohne ein einziges Mal die Grenze zu überschreiten. Er freute sich über meine Erfolge, vermittelte dabei aber nie den Eindruck, dass sie ihm extrem wichtig seien. Er liebte mich bedingungslos, trotzdem brachte er mich dazu, ihm eine Freude machen zu wollen. Und wie in diesem Moment, wusste er immer, wann er für mich da sein musste und wann er sich besser zurückzog.
» Ich schaff das schon.«
Er nickte. Ich küsste ihn wieder auf seine raue Wange, wobei mir jetzt auffiel, wie schlaff sie herunterhing, und stieg aus. Ich stieg in den Fahrstuhl, der mich direkt in meine Geschäftsräume brachte. Big Cyndi saß am Schreibtisch. Sie trug etwas, das aussah, als hätte man es Bette Davis vom Körper gerissen, nachdem sie darin die dramatische Strandszene in Was geschah wirklich mit Baby Jane abgedreht hatte. Big Cyndi hatte mehrere Zöpfe im Haar. Big Cyndi ist, na ja, groß– einsfünfundneunzig lang und hundertfünfzig Kilo schwer. Alles an ihr ist groß: Sie hat große Hände, große Füße und einen großen Kopf. Die Möbel um sie herum erinnern immer ein bisschen an eine Puppenstube, so dass gelegentlich ein Alice-im-Wunderland-Effekt eintrat, wobei das Zimmer und alles um sie herum zu schrumpfen schien.
Als sie mich sah, sprang sie auf, warf dabei fast ihren Schreibtisch um und rief: » Mr. Bolitar!«
» Hey, Big Cyndi.«
Sie kann es nicht ausstehen, wenn ich sie nur » Cyndi« oder, äh, » Big« nenne. Sie schätzt die Förmlichkeit. Ich bin Mr. Bolitar. Sie ist Big Cyndi– das ist übrigens ihr richtiger Name. Sie hat ihn vor über zehn Jahren ganz offiziell ändern lassen.
Big Cyndi kam mit einer Behändigkeit auf mich zugelaufen, die man ihr nicht zugetraut hätte. Sie presste mich in eine Umarmung, bei der ich mir vorkam, als wäre ich mumifiziert und in Mansarden-Dämmstoff gewickelt. Aber auf eine gute Art.
» Ach, Mr. Bolitar!«
Sie fing an zu schluchzen, ein Geräusch, das Ähnlichkeit mit dem Paarungsruf der Elche hatte, wie man ihn aus Naturfilmen kennt.
» Mir geht’s gut, Big Cyndi.«
» Aber auf Sie wurde geschossen.«
Wie immer veränderte sich ihre Stimme mit ihrer Stimmung. Als sie hier anfing, hatte Big Cyndi kein Wort gesprochen, sondern nur gegrunzt. Die Klienten hatten sich beschwert, allerdings nicht von Angesicht zu Angesicht und meist auch anonym. Jetzt sprach Big Cyndi mit einer hellen Kleinmädchenstimme, was ehrlich gesagt viel furchteinflößender war als das Grunzen.
» Ich hab viel doller zurückgeschossen«, sagte ich.
Sie ließ mich los und kicherte, wobei sie sich ihre Hand von der Größe eines LKW-Reifens vor den Mund hielt. Das Kichern hallte durch den Raum und durch das
Weitere Kostenlose Bücher