Von Natur aus kreativ
der man nicht recht weiß, was man sagen soll, und beginnt, sich am Kopf zu kratzen. Als Übersprungshandlung kann auch das Rauchen angesehen werden, wenn durch diese Tätigkeit eine innere Spannung abgebaut wird; hinzu kommt beim Rauchen natürlich seine antidepressive Wirkung. Alle Übersprungshandlungen dienen dem biologischen Zweck, ein inneres Gleichgewicht zu sichern.
Mario Tokoro & Ken Mogi (Hrsg.): Creativity and the Brain, Hackensack: World Scientific 2007.
Im April 2004 traf sich in Bertinoro, nicht weit von Bologna, eine Gruppe von Wissenschaftlern, um sich Gedanken über Kreativität in der Wissenschaft zu machen. Das Eindrucksvollste war eigentlich der Ort, an dem die Veranstaltung stattfand: Hier hatte schon Friedrich Barbarossa übernachtet und Dante in die Ferne geblickt. Einer der Stars war Allan Snyder, ein Kreativitätsguru aus Australien, der stets eine Ledermütze schräg auf dem Kopf trägt. Doch seine Kernthese zur Kreativität ist nach meiner Einschätzung grober Unfug. Er meint, dass bestimmte autistische Kinder besonders kreativ wären, weil sie die Welt so bildlich darstellen, wie sie optisch charakterisiert sei. Was diese Kinder aber eigentlich kennzeichnet, das istihre mangelnde Fähigkeit zur Abstraktion. Ihre Kreativität ist also aufgrund eines neuronalen Problems eingeschränkt, denn ohne sich vom Detail lösen zu können, kann es keine Kreativität geben.
Siegfried Unseld: „Das Tagebuch“ Goethes und Rilkes „Sieben Gedichte“, Frankfurt (Main): Insel 1978.
Unselds spannende Analyse, wie die erotischen Gedichte von Goethe und Rilke nur mühsam den Weg in die Öffentlichkeit gefunden haben, liest sich wie eine Kriminalgeschichte. Und man erfährt, welchen inneren Weg Rilke ging, um sich von Goethe zu lösen und ihn dann wieder zu finden: Unseld meint, dass die erotischen Gedichte Rilkes durch „Das Tagebuch” von Goethe wesentlich beeinflusst wurden. Zur Entfaltung der Kreativität, sei es in den Künsten, den Wissenschaften, der Wirtschaft oder der Politik, gehört aber auch, sich von den Denkwelten anderer und von Vorbildern zu lösen.
Lew S. Vygotskij: Arbeiten zu theoretischen und methodologischen Problemen der Psychologie, Berlin: Volk und Wissen 1985.
Vygotskij hat in seinem nur kurzen Leben (1896–1934) der Psychologie, Philosophie und Linguistik entscheidende Impulse gegeben. Zu Beginn seiner wissenschaftlichen Tätigkeit befasste er sich insbesondere mit der „Psychologie der Kunst“ und legte 1925 eine Dissertation zu diesem Thema vor. Besonders interessierte ihn, wie Kunst rezipiert wird und welche Gefühle durch Kunst hervorgerufen werden. Im Bereich der Psychologie betonte er die Bedeutung der praktischen Tätigkeit und verwies dazu auf jene Szene in Goethes „Faust“, in der die Bedeutung das praktischen Handelns betont wird: „Im Anfang war die Tat.“ Vygotskij unterschied zwei Ebenen psychischer Prozesse, nämlich jene der sich selbst überlassenen Vernunft und jene der mit Werkzeugen ausgestatteten Vernunft. Die erste Ebene kann als natürliche Ebene angesehen werden; auf ihr sind nach moderner Sprechweise anthropologische Universalien repräsentiert. Die zweite Ebene ist offen für kulturelle Wirkungen; auf ihr können sich also kulturelle Spezifika entfalten. Lange bevor sich in den modernen Kognitionswissenschaften eine interdisziplinäre Denkweise etablierte, wies Vygotskij darauf hin, dass man drei Zugänge zum Verständnis höherer Funktionen nutzen sollte: die phylogenetische Betrachtung, die ontogenetische Analyse und die neuropsychologische bzw. pathologische Vorgehensweise. Wir können also von anderen Lebewesen lernen (eine Grundvoraussetzung dieses Buches), wir können aus der Entwicklung des menschlichen Erlebens und Verhaltens lernen (also von Kindern), und wir können von Patienten mit selektiven Störungen lernen. – Hier zeigt sich, wie jemand in vielen verschiedenen Bereichen kreativ sein kann, was es allerdings schwieriger macht, ihn einem davon eindeutig zuzuordnen.
Martin Walser: Meßmers Reisen, Frankfurt (Main): Suhrkamp 2003.
Was mag der Hinweis auf das Buch eines Schriftstellers in dieser Liste suchen? Weil viele Sätze in dieser Sammlung von Gedanken wissenschaftlichen Thesen von Hirnforschern entsprechen. Das ist ein Indiz für die „Einheit“ gedanklicher Welten von Künstlern und Wissenschaftlern, nur bringen die Sätze des Schriftstellers das Gemeinte meist sehr viel klarer auf den Punkt. So hält Walser zum
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