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von Schirach

von Schirach

Titel: von Schirach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schuld
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verfolgte er sie, wartete vor
den Geschäften, vor den Cafes, den Restaurants. Er fiel niemandem auf. Am
vierten Samstag kaufte sie Kinokarten. Er fand einen Platz direkt hinter ihr. Sein
Plan würde aufgehen. Sie hatte die Hand auf den Oberschenkel ihres Freundes
gelegt. Holbrecht setzte sich, er roch ihr Parfüm, er hörte sie flüstern. Er
zog das Küchenmesser aus seinem Hosenbund, er hielt es unter seinem Jackett
umklammert. Sie hatte die Haare hochgesteckt, er sah den blonden Flaum auf dem
schmalen Nacken. Fast konnte er die Härchen einzeln zählen.
     
    Er glaubte, er habe jedes Recht.
     
    Ich weiß nicht, weshalb Holbrecht
gerade in meine Kanzlei kam. Ich habe keine Laufkundschaft, aber das Büro
liegt in der Nähe des Kinos, und vielleicht war nur das der Grund. Die Sekretärin
rief mich frühmorgens an, ein Mann ohne Anmeldung warte, er habe auf den Stufen
vor dem Büro gesessen, und er habe ein Messer dabei. Die Sekretärin ist seit
Langem bei mir, jetzt hatte sie Angst.
     
    Holbrecht saß in sich
zusammengesunken auf einem Stuhl, er starrte auf das Messer vor ihm auf dem
Tisch. Er bewegte sich nicht. Ich fragte ihn, ob ich das Messer nehmen dürfe.
Holbrecht nickte, ohne aufzusehen. Ich legte es in einen Umschlag und brachte
es ins Sekretariat. Dann setzte ich mich zu ihm und wartete. Irgendwann sah er
mich an. Das Erste, was er sagte, war: »Ich habe es nicht getan.« Ich nickte,
manchmal ist es für Mandanten schwer zu reden. Ich bot ihm einen Kaffee an,
dann saßen wir da und rauchten. Es war Hochsommer, durch die großen offenen
Fenster des Besprechungsraumes hörte man helle Stimmen, Kinder auf
Klassenfahrt. Jugendliche lachten in dem Cafe gegenüber. Ich schloss die
Fenster, es war still und warm.
     
    Es dauerte lange, bis er mir seine
Geschichte erzählte. Er hatte eine merkwürdige Art zu sprechen, er nickte
nach jedem Satz, er musste sich selbst bestätigen, was er sagte, er machte
lange Pausen. Am Ende sagte er, er habe das Mädchen ins Kino verfolgt, aber er
habe sie nicht erstochen, das hätte er nicht gekonnt. Er zitterte. Er hatte die
ganze Nacht vor der Kanzleitür gesessen und war übermüdet. Die Sekretärin rief
beim Kino an, es war tatsächlich nichts passiert.
     
    Holbrecht brachte am nächsten Tag
die Unterlagen des alten Verfahrens. Die Adresse der jungen Frau stand im
Telefonbuch, ich schrieb sie an und fragte, ob sie mit mir sprechen wolle. Wir
hatten keine andere Möglichkeit. Ich war überrascht, als sie tatsächlich kam.
    Sie war eine junge Frau,
Auszubildende im Gastgewerbe, Sommersprossen, nervös. Ihr Freund war
mitgekommen, ich bat ihn, in einem anderen Zimmer zu warten. Als ich ihr die Geschichte
Holbrechts erzählte, wurde sie ruhig. Sie schaute aus dem Fenster. Ich sagte
ihr, dass wir kein Wiederaufnahmeverfahren gewinnen können, wenn sie nicht
aussagt. Sie sah mich nicht an, sie antwortete nicht. Ich war mir nicht sicher,
ob sie Holbrecht helfen würde, aber als sie mir zum Abschied die Hand gab, sah
ich, dass sie geweint hatte.
    Einige Tage später schickte sie ihr
altes Tagebuch mit der Post. Es war rosa, Pferde und Herzen waren auf den
Stoffumschlag gedruckt. Sie hatte es erst ein paar Jahre nach den Ereignissen
geschrieben, es hatte sie nicht losgelassen. Auf einige Seiten hatte sie
gelbe Zettel für mich geklebt. Als sie acht Jahre alt war, hatte sie sich die
ganze Sache ausgedacht: Sie wollte Miriam, ihre Lehrerin, für sich allein, sie
war eifersüchtig auf Holbrecht, der seine Frau manchmal abholte. Es war eine
Mädchenphantasie. Sie hatte ihre Freundin überredet, die Geschichte zu
bestätigen. Das war alles.
     
    Die Wiederaufnahme des Verfahrens
wurde zugelassen, die Freundin gab zu, was die Mädchen damals getan hatten,
Holbrecht wurde in der neuen Hauptverhandlung freigesprochen. Den jungen Frauen
fiel es nicht leicht auszusagen. Sie entschuldigten sich bei Holbrecht im
Gerichtssaal, es war ihm egal. Wir konnten die Presse aus der Sache
raushalten. Er wurde für die unschuldig erlittene Haft entschädigt, es waren
etwas mehr als 30 000 Euro.
     
    Holbrecht kaufte ein kleines Cafe in
Charlottenburg, es gibt dort hausgemachte Schokoladen und guten Kaffee. Er
lebt mit einer Italienerin zusammen, die ihn liebt. Manchmal trinke ich dort
einen Espresso. Über die Sache sprechen wir nicht.
     
    Anatomie
     
    Er saß im Wagen. Er war kurz
eingeschlafen, kein tiefer Schlaf, nur ein traumloses Wegnicken, ein paar
Sekunden. Er wartete und trank aus der

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