von Schirach
Richter Frau Haibert fragen,
weshalb sie Larissa nicht beschützt habe. Weshalb sie Larissas Umarmung gelöst
habe und sie Lackner überlassen habe. Der Richter würde sie fragen, weshalb sie
zugesehen habe, dass der Mann das Mädchen mitnahm, obwohl es gefleht und
geweint habe. Und Frau Haibert würde immer das Gleiche antworten, auf jede
seiner Frage würde sie sagen: »Es war nicht meine Sache, es ging mich nichts
an.«
Lackner brachte Larissa in seine Wohnung. Sie war noch Jungfrau. Als er
fertig war, schickte er sie zurück. »Grüß deinen Alten«, sagte er zum Abschied.
Zu Hause duschte Larissa so heiß, dass ihre Haut fast verbrannte. Sie zog die
Vorhänge in ihrem Zimmer zu. Sie hatte Schmerzen und Angst, und sie konnte es
niemandem sagen.
In den folgenden Monaten ging es Larissa schlecht. Sie war müde, übergab
sich, war fahrig. Die Mutter sagte, sie solle nicht so viele Süßigkeiten
essen, das Sodbrennen komme daher. Larissa nahm fast zehn Kilo zu. Sie war
mitten in der Pubertät. Sie hatte eben erst die Pferdebilder von der Wand
genommen und Fotos aus der Bravo aufgehängt. Es wurde schlimmer, vor allem die
Bauchschmerzen. »Kolik«, sagte der Vater dazu. Die Monatsblutung blieb aus,
sie glaubte, es sei der Ekel.
Am 12. April
mittags schaffte sie es kaum noch bis zur Toilette. Sie meinte, ihr Darm würde
platzen, sie hatte schon den ganzen Vormittag Bauchkrämpfe gehabt. Es war
etwas anderes. Sie griff zwischen ihre Beine und spürte das Fremde. Es wuchs
aus ihr. Sie tastete verschmierte Haare, einen winzigen Kopf. »Es darf nicht in
mir sein«, sagte sie später, das sei alles, was sie gedacht habe, immer und
immer wieder: »Es darf nicht in mir sein.« Ein paar Minuten später fiel das
Baby in die Toilettenschüssel, sie hörte das Wasser klatschen. Sie blieb
sitzen. Lange, jede Zeit fehlte ihr.
Irgendwann stand sie auf. Das Baby lag dort unten, es lag in der
Toilettenschüssel, weiß und rot und verschmiert und tot. Sie griff zur Ablage
über dem Waschbecken, nahm die Nagelschere, schnitt die Nabelschnur durch. Sie
trocknete sich mit Toilettenpapier ab, sie konnte das Papier nicht auf das Baby
werfen, sie stopfte es in den Plastikeimer im Bad. Sie saß auf dem Boden, bis
ihr kalt wurde. Dann versuchte sie zu gehen, wacklig, aus der Küche holte sie
eine Mülltüte. Sie stützte sich an die Wand, blutiger Handabdruck. Dann zog sie
das Kind aus der Toilette, die Beinchen, dünn waren sie, fast so dünn wie ihre
Finger. Sie legte es auf ein Handtuch. Sie sah kurz hin, ganz kurz und viel zu
lange, es lag da mit blauem Kopf und geschlossenen Augen. Dann schlug sie das
Handtuch über das Kind und schob es in die Tüte. Vorsichtig, »wie ein Laib
Brot«, dachte sie. Sie brachte die Tüte in den Keller, trug sie auf beiden Händen,
legte sie zwischen die Fahrräder. Sie weinte lautlos. Auf der Treppe nach oben
begann sie zu bluten, es lief die Schenkel herunter, sie merkte es nicht. Sie
schaffte es noch in die Wohnung, dann brach sie im Flur zusammen. Die Mutter
war zurückgekommen, sie rief die Feuerwehr. Im Krankenhaus holten die Ärzte die
Nachgeburt und alarmierten die Polizei.
Die Polizistin war freundlich, sie trug keine Uniform und strich dem
Mädchen über die Stirn. Larissa lag in einem sauberen Bett, eine Schwester
hatte ihr ein paar Blumen hingestellt. Sie erzählte alles. »Es ist im Keller«,
sagte sie. Und dann sagte sie, was niemand ihr glaubte: »Ich habe nicht gewusst,
dass ich schwanger bin.«
Ich besuchte Larissa im Frauengefängnis, ein befreundeter Richter hatte
mich gebeten, das Mandat zu übernehmen. Sie war fünfzehn. Ihr Vater gab der
Boulevardpresse ein Interview: Sie sei immer ein gutes Kind gewesen, er
verstehe es auch nicht, sagte er. Er bekam 50 Euro dafür.
Verdrängte Schwangerschaften gab es schon immer. Jedes Jahr erkennen
alleine in Deutschland 1500 Frauen zu spät, dass sie schwanger sind. Und Jahr für
Jahr erfahren es fast 300 Frauen erst bei der Geburt. Alle Zeichen deuten sie
um: Die Regelblutung bleibe aus wegen Stress, der Bauch sei gebläht, weil man
zu viel gegessen habe, die Brüste würden wegen einer Hormonstörung wachsen. Die
Frauen sind sehr jung oder schon über vierzig. Viele haben bereits Kinder bekommen.
Menschen können Dinge verdrängen, niemand weiß, wie es funktioniert. Manchmal
gelingt damit alles: Auch Ärzte werden getäuscht und verzichten auf weitere
Untersuchungen.
Larissa wurde freigesprochen. Der
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