Voodoo
musste man nur, um sich mit Kunden zum Mittag- oder Abendessen oder auf einen Drink zu treffen. Wer gut war, hatte immer reichlich zu tun. Manche Unternehmen versorgten einen regelmäßig mit Aufträgen. Je besser man war, umso mehr feste Kunden. Ein angenehmes Leben. Todlangweilig, aber auch Max hatte einst damit geliebäugelt.
Geld war nicht in der Brieftasche, aber im Kleingeldfach steckte in der Ecke ein zusammengefaltetes Blatt Papier.
Eine Seite aus einem haitianischen Telefonbuch aus dem Jahr 1990. Die Buchstaben I bis F, mehrere Einträge mit blauem Kuli eingekringelt: sämtliche Faustins in Port-au-Prince, dreizehn an der Zahl.
Medd war auf der gleichen Spur gewesen wie er.
Wer war der Kerl mit den Dreadlocks? Warum hatte er ihm die Dose gegeben?
War es Medd? Nein. Dreadlocks war schwarz. Er war verrückt und höchstwahrscheinlich stumm. Weder am Wasserfall noch im Tempel hatte er auch nur einen einzigen Laut von sich gegeben.
Vielleicht hatte Dreadlocks Medd bei den Wasserfällen gesehen, als der Mercedes Leballec einen Besuch abgestattet hatte. Vielleicht hatte Medd sich mit ihm angefreundet. Oder aber er hatte Medds Leiche gefunden und ihm die Brieftasche abgenommen. Oder vielleicht hatte er nur die Brieftasche gefunden. Hatte sie in einer Dose aufbewahrt und sie dem ersten Weißen in die Hand gedrückt, den er in Saut d’Eau gesehen hatte.
Um das herauszufinden, müsste er im Grunde noch einmal nach Saut d’Eau fahren und ihn fragen. Aber wenn es sich irgendwie vermeiden ließ, hatte er nicht vor, noch einmal an diesen Ort zurückzukehren.
Um 6:30 Uhr rief er bei Joe an. Sein Freund meldete sich nach dem zweiten Klingeln. Joe war in der Küche, im Fernsehen liefen leise die Nachrichten. Im Hintergrund hörte Max Joes Töchter.
Sie redeten und rissen Witze, hauptsächlich Joe. Er hatte ein dreidimensionales Leben. Max hatte nur das, wonach er suchte.
»Dieser Typ, den ich für dich überprüfen sollte, dieser Vincent Paul.«
»Ja?«
»Ich sagte ja schon, dass die Briten sich gern mit ihm unterhalten würden.«
»Ja?«
»Es geht da um eine Suchmeldung.«
Max packte den Hörer etwas fester.
»Wer?«
»Eine Frau«, sagte Joe. »Anfang der Siebziger hat Vincent Paul in Cambridge studiert. Er war da mit einem Mädchen zusammen, die hieß …«, Max hörte, wie Joe in seinem Notizbuch blätterte, »Josephine … Josephine Latimer. Sie war Künstlerin, und sie hat gern mal einen über den Durst getrunken. Sehr gern. Eines Nachts hat sie einen Jugendlichen überfahren und ist abgehauen. Ein Zeuge hatte das Auto gesehen und sich das Nummernschild gemerkt. Sie wurde festgenommen und saß bis zur Kautionsverhandlung im Knast.
Ihre Eltern sind eine ziemlich große Nummer da in Cambridge. Alle Welt kennt sie, da ist es natürlich ein Riesenskandal, dass die Tochter Fahrerflucht begangen haben soll. Die Polizei will ein Exempel statuieren und der Bevölkerung zeigen, dass vor dem Gesetz alle gleich sind. Sie schieben die Kautionsverhandlung zwei Wochen raus. Das Mädchen bleibt in Haft, wird verprügelt und vergewaltigt. Als sie rauskommt, ist sie mit den Nerven am Ende und versucht sich umzubringen.
Ein Jahr später, 1973, kommt es zum Prozess. Sie wird der fahrlässigen Tötung für schuldig befunden. Zwei Tage später soll das Strafmaß verkündet werden. Fünf Jahre Haft, Minimum, heißt es. Sie weiß, dass sie nicht noch mal in den Knast zurückgehen kann. Sie weiß, dass sie das nicht durchsteht.
Am Tag des Gerichtstermins taucht sie unter. Es gibt eine Riesenfahndung, zuerst nur in der Gegend, dann im ganzen Land. Ihr Freund – Vincent – ist ebenfalls verschwunden. Und Vincent ist ein Riese, zwei Meter, zwei Meter fünf, der dürfte doch im Grunde kaum zu übersehen sein, wenn du weißt, was ich meine. Trotzdem dauert es zwei Monate, bis jemand zur Polizei geht und aussagt, er hätte die beiden auf einer Fähre nach … nach … zum Hoek van Holland gesehen.«
»Und das war das letzte Mal, dass sie gesehen wurden?«, fragte Max.
»Ja. Er und seine Freundin. Sie wird in England immer noch gesucht, wegen fahrlässiger Tötung und Strafvereitelung. Aber das rangiert heute mehr unter ›ferner liefen‹. Bonnie und Clyde sind die beiden nicht gerade.«
»Zumindest nicht da drüben.«
»Hast du diesen Vincent Paul in Haiti gesehen?«
»Ja.«
»Hast du mit ihm gesprochen?«
»Noch nicht – man redet nicht mit ihm, er redet mit dir«, bemerkte Max.
»Was? Wie Gott im brennenden
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