Voodoo
in der Luft. Seine Finger streichelten die Leere.
Es war schon wieder dunkel. Er sah auf die Uhr. 19:00. Er hatte volle zwölf Stunden durchgeschlafen. Sein Mund war trocken, er hatte einen Kloß in der Kehle, Feuchtigkeit in den Augenwinkeln. Anscheinend hatte er im Schlaf geweint. Draußen zirpten die Grillen, und aus den Bergen schickten die Trommeln ihre Rhythmen direkt in seinen Magen, tanzten mit seinem Hunger und sagten ihm, er solle etwas essen.
40
Bis zu ihrem Verschwinden im Oktober 1994 hatte Claudette Thodore mit ihren Eltern Caspar und Mathilde auf der Rue des Ecuries in Port-au-Prince gelebt, nicht weit von einer alten Kaserne entfernt.
Die Rue des Ecuries war eine Verbindungsstraße zwischen zwei Hauptverkehrsadern, an beiden Enden durch riesige Palmen den Blicken entzogen. Eine dieser winzigen Straßen, die nur die Einheimischen kennen und die niemand anderer wahrnimmt, höchstens vielleicht ein Fremder auf der Suche nach einer Abkürzung, der sie aber sofort wieder vergisst.
Die Wegbeschreibung hatte Max von Mathilde bekommen. Sie sprach perfektes Englisch mit ein paar Anklängen an den Mittleren Westen, wahrscheinlich Illinois. Nicht der leiseste Hauch eines frankokaribischen Akzents.
Als Max mit Chantale aus dem Wagen stieg, stieg ihm der Geruch von frischen Blumen und Minze in die Nase. Ein Stück weiter stand ein Mann mit einem Eimer und einem Mopp. Er wischte die Straße. Als sie näher kamen, wurde der Geruch immer stärker und brannte Max in den Schleimhäuten. Die Häuser zu beiden Seiten waren hinter soliden Metalltoren und mit Dornen und Stacheldraht bewehrten Mauern versteckt. Nur Baumkronen und Telegrafenmasten, hier und da der Rand einer Satellitenschüssel und ein paar Fernsehantennen ragten über die Mauern hinaus. Mehr war nicht zu sehen. Max vermutete, dass sich dahinter Bungalows und eingeschossige Häuser verbargen. Er hörte mehrere Hunde hektisch durch den Spalt unter den Toren schnüffeln. Sie teilten die Gerüche, die ihnen in die Nase stiegen, in bekannt und unbekannt ein. Nicht ein einziger Hund bellte, um sein Herrchen auf die Fremden in ihrer Straße aufmerksam zu machen. Und das aus dem einfachen Grund, wusste Max, dass es Kampfhunde waren. Die gaben nie einen Laut von sich. Sie ließen jeden Eindringling so weit auf ihr Terrain vordringen, dass er nicht mehr schnell genug zurückkonnte, erst dann stürzten sie sich auf ihn.
Er hatte es immer gehasst, wenn zu einer Razzia die Hundestaffel mitgenommen wurde. Eklige, fiese Köter, die nur ihren Trainer respektierten, der ihnen ein Ausmaß an Bösartigkeit eingeprügelt hatte, das sie, wären sie Menschen, dazu veranlasst hätte, eine ganze Serie von extrem grausamen und kranken Morden zu begehen. Mit einem Kampfhund war nicht gut verhandeln. Man konnte sie weder besänftigen noch hypnotisieren oder ihnen einen Stock zum Spielen zuwerfen, während man schnell den nächsten Baum erklomm. Wenn ein Kampfhund sich auf einen stürzte, gab es nur noch eins: ihn auf der Stelle abknallen. Die Kampfhunde der amerikanischen Polizei waren je nach Bundesstaat auf einen bestimmten Körperteil trainiert. In Florida gingen sie auf die Eier, in New York City auf die Unterarme, im Staat New York auf die Waden. In manchen Südstaaten hatten sie es auf das Gesicht abgesehen, in anderen auf die Kehle; in Kalifornien rissen sie ihrem Opfer ein Stück aus dem Arsch, und in Texas hegten sie eine Vorliebe für Oberschenkel. Max hatte keine Ahnung, wie das in Haiti gehalten wurde, und er wollte es auch nicht herausfinden. Er hoffte, dass die Thodores keinen Hund hatten.
Der Mann mit dem Mopp beäugte sie, als sie näher kamen, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. Chantale nickte ihm zu und grüßte. Der Mann antwortete nicht, er musterte sie mit zusammengekniffenen Augen und gerunzelter Stirn, seine Körpersprache verriet höchste Anspannung.
»Ich wette, der stammt aus Syrien«, flüsterte Chantale. »Er wischt die Straße mit Minze und Rosenwasser. In Syrien macht man das so, es soll böse Geister fern halten und die guten anziehen. Vor vierzig, fünfzig Jahren gab es hier einen regelrechten Zustrom syrischer Händler. Sie haben kleine Läden aufgemacht, in denen sie alles Mögliche an die Armen verkauften. Jeden Morgen haben sie die Straße vor ihrem Geschäft gewischt und mit Kräutermischungen getränkt, die Glück, Reichtum und Schutz bringen sollten. Einige haben es offensichtlich richtig gemacht, die sind nämlich ziemlich reich
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