Voodoo
Fremden?«
»Nein.«
»Niemals?«
»Nein.«
»Hat sie mal von Tonton Clarinette gesprochen?«
Mathilde ließ sich auf das Bett fallen. Ihre Unterlippe zitterte, sie wirkte aufgewühlt. Sie öffnete die Hand und starrte die Figur an.
»Verschweigen Sie mir etwas, Mrs. Thodore?«
»Ich habe es nicht für wichtig gehalten … damals«, sagte sie.
»Was?«
»Den orangefarbenen Mann«, sagte sie.
Max ließ den Blick noch einmal über die Zeichnungen an den Wänden schweifen, falls er eine von einem Mann mit halbem Gesicht übersehen haben sollte. Aber da war nichts, was ihm nicht schon vorher aufgefallen war.
Die Geschichte von den verschwundenen Kindern in Clarinette fiel ihm wieder ein. Die Mutter hatte behauptet, ihr Sohn habe gesagt, ein Mann »mit entstelltem Gesicht« habe ihn mitgenommen.
»Max?«, sagte Chantale, die im Türrahmen stand. »Sehen Sie sich das hier mal an.«
Caspar stand neben ihr, eine Rolle aus mehreren Blatt Papier in der Hand.
So, wie Claudette es erzählt hatte, war ihr Freund, der orangefarbene Mann, halb Mensch, halb Maschine. Zumindest sein Gesicht. Er hatte ein großes graues Auge mit einem roten Punkt in der Mitte, hatte sie gesagt. Es stand so weit vor, dass er es mit der Hand festhalten musste. Und es machte ein komisches Geräusch.
Caspar erzählte, wie er gelacht hatte, als sie ihm davon berichtete. Er hatte ein Faible für Science-Fiction-Filme. Robocop , Star Wars un d die beiden Terminator- Filme waren seine Favoriten, und er hatt e sie oft zusammen mit seiner Tochter auf Video gesehen, auch wenn Mathilde protestiert hatte, weil Claudette dafür zu jung war. Er hatte den orangefarbenen Mann für eine Mischung aus R2D2 und dem Terminator gehalten, dem die Haut vom Gesicht abpellte, sodass darunter die Maschine zum Vorschein kam. Caspar hatte die Sache nicht so ernst genommen, weil er nicht glaubte, dass der Freund seiner Tochter realer sein könnte als diese Filmroboter.
Mathilde hatte den Geschichten ihrer Tochter über den orangefarbenen Mann noch weniger Glauben geschenkt. Als sie so alt gewesen war wie ihre Tochter, hatte sie ebenfalls einen imaginären Freund gehabt. Sie war ein Einzelkind, und ihre Eltern hatten sie oft allein gelassen, und wenn sie da waren, ihr auch nicht die nötige Aufmerksamkeit gegeben.
Keiner der beiden hatte sich übermäßig Sorgen gemacht, als Claudette in den letzten sechs Monaten vor ihrem Verschwinden immer öfter Bilder von diesem Freund gemalt hatte.
»Sie haben ihn nie gesehen? Diesen orangefarbenen Mann?«, fragte Max die Thodores, als sie sich alle wieder um den Esstisch versammelt hatten. Die Bilder waren vor ihnen auf dem Tisch ausgebreitet. Es waren über dreißig, sie reichten von winzigen Buntstiftzeichnungen bis zu großen Malereien aus Wasserfarbe.
Das Grundelement war ein orangefarbenes Strichmännchen mit großem Kopf, der die Form eines D hatte und aus zwei Hälften bestand: einem Rechteck links und einem Kreis rechts. Der Kreis ähnelte einem Gesicht, aber es wies keine besonderen Merkmale auf: je ein Strich für Auge und Mund, keine Nase, ein schiefes Dreieck, das wohl das Ohr sein sollte. Die andere Hälfte war sehr viel detaillierter und sah gruselig aus. Hauptmerkmal waren eine große Spirale, wo das Auge sein sollte, und der Mund mit den scharfen, nach oben wachsenden Fangzähnen, die eher aussahen wie Dolche. Der linke Arm fehlte.
»Nein.«
»Haben Sie je mit ihr über diesen Mann gesprochen? Wer er war?«
»Manchmal habe ich sie gefragt, ob sie ihn gesehen hatte«, sagte Caspar. »Meistens sagte sie ja.«
»Mehr hat sie nicht erzählt? Hat sie je erwähnt, ob noch jemand bei ihm war?«
Beide schüttelten den Kopf.
»Hatte er ein Auto? Hat sie gesagt, ob er ein Auto dabei hatte?«
Wieder Kopfschütteln.
Max warf noch einen Blick auf die Zeichnungen. Sie waren nicht geordnet, trotzdem konnte Max ziemlich klar erkennen, was passiert war, wie der orangefarbene Mann Claudettes Vertrauen gewonnen hatte, bevor er schließlich auf sie zugegangen war. Die ersten Zeichnungen zeigten den Mann aus der Ferne, im Profil, immer umringt von drei oder vier Kindern. Alle waren in Orange gemalt, ihre Köpfe vorne flach und hinten rund, mit einem vorstehenden Schnabel anstelle der Nase. Es wurden immer weniger Kinder, bald waren es nur noch zwei und dann meist nur noch eines: Claudette selbst, sie stand vor ihm, genau wie bei der Figur auf der Fensterbank. Auf den Gruppenbildern standen die Kinder ein Stück von dem
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