Voodoo
Seine Reaktion überraschte ihn selbst: In den sieben Jahren im Knast hatte er seine Emotionen die meiste Zeit unter Kontrolle gehabt. Im Gefängnis konnte man es sich nicht leisten zu zeigen, was einen hoch- oder runterbrachte, weil irgendwer es gegen einen verwenden würde. Er gewöhnte sich offenbar schon wieder an das Leben in Freiheit.
»Dieses Arschloch Clinton, der gerade wiedergewählt wurde, hat ihm ein Ticket in die Heimat spendiert«, erklärte Joe. »Wir schicken die Kriminellen jetzt nach Hause. Passiert überall, in Florida und in Washington DC.«
»Wissen die, was er getan hat?«, fragte Max.
»Das interessiert die nicht. Warum das Geld des Steuerzahlers dafür verschwenden, die Leute im Knast durchzufüttern, wenn man sie genauso gut nach Hause schicken kann?«
»Aber der läuft jetzt wieder frei herum!«
»Ja, aber damit können sich die Haitianer herumschlagen. Und jetzt auch du. Wenn du ihm da über den Weg läufst …«
Max setzte sich wieder.
»Wann war das, Joe? Wann ist er rausgekommen?«
»Im März. Dieses Jahr.«
»Dieses Dreckschwein!«
»Das ist noch nicht alles …«, fing Joe an, dann wurde er unterbrochen und redete mit jemand anderem. Er legte den Hörer auf den Schreibtisch. Max hörte, wie die Unterhaltung immer lauter wurde. Er verstand nicht alles, was da gesagt wurde, aber irgendwer hatte irgendwas vergeigt. Aus dem Dialog wurde ein Monolog. Joe war hörbar sauer. Dann riss er den Hörer wieder hoch. »MAX? WIR SEHEN UNS HEUT ABEND. DANN UNTERHALTEN WIR UNS IN RUHE!«, brüllte er und schmiss den Hörer auf die Gabel.
Max lachte, als er sich den armen Untergebenen vorstellte, der gerade die volle Wucht von Joes Zorn abbekam. Aber das Lachen verging ihm, als er wieder an Solomon Boukman dachte. Und an das erste geopferte Kind. An den kleinen Körper auf der Bahre im Leichenschauhaus.
Solomon Boukman, Kindermörder. In Freiheit .
Solomon Boukman, Massenmörder. In Freiheit .
Solomon Boukman, Polizistenmörder. In Freiheit .
Solomon Boukman, Bandenführer, Drogenbaron, Zuhälter, Geldwäscher, Kidnapper, Vergewaltiger. In Freiheit .
Solomon Boukman: sein letzter Fall als Bulle, seine letzte Festnahme, die ihn fast das Leben gekostet hätte.
Solomons Worte zu ihm im Gerichtssaal: »Du gibst mir Grund zu leben«, mit einem Lächeln auf den Lippen geflüstert, bei dem Max das Blut in den Adern gefroren war. Diese Worte hatten die Sache zwischen ihnen zu einer persönlichen gemacht.
Max’ Antwort: » Adios , Arschloch .« Wie sehr er sich doch geirrt hatte.
Boukman war der Kopf einer Gang namens SNBC gewesen – kurz für Saturday Night Barons Club, benannt nach Baron Samedi, dem Gott des Todes im Voodoo. Die Mitglieder schworen, dass ihr Anführer übernatürliche Kräfte habe, dass er Gedanken lesen und die Zukunft vorhersagen könne, dass er an zwei Orten gleichzeitig sein und sich plötzlich in einem Raum materialisieren könne wie die Mannschaft in Star Trek . Sie behaupteten, er habe seine Kräfte von einem Dämon, zu dem er betete, einem méchant ha . Max und Joe hatten ihn gefasst und die Gang hochgehen lassen.
Max zitterte vor Wut, er hatte die Fäuste geballt, die Hitze stieg ihm ins Gesicht, und die Ader auf seiner Stirn pulsierte. Solomon Boukman war eine der Festnahmen, auf die Max sehr stolz war – und bei der es ihm große Freude bereitet hatte, den Mann vor der Fahrt aufs Revier noch ordentlich mit den Fäusten zu bearbeiten.
Jetzt war Boukman wieder auf freiem Fuß. Er hatte das System geschlagen. Und er hatte Max verhöhnt und ihm ins Gesicht gepisst. Das war zu viel.
3
Max und Joe kannten sich seit fünfundzwanzig Jahren. Sie waren schon zusammen Streife gefahren und dann gemeinsam von Dienstrang zu Dienstrang aufgestiegen.
Bei der Polizei von Miami firmierten die beiden als »Born to Run«. Ihr Boss Eldon Burns hatte ihnen den Spitznamen verpasst, weil er meinte, die beiden nebeneinander zu sehen erinnere ihn an das Cover des Bruce-Springsteen-Albums, auf dem der hagere Sänger sich an Clarence Clemons lehnt, den hünenhaften Saxophonisten mit dem Ludenhut. Kein schlechter Vergleich. Neben Joe sah jeder aus wie ein Zwerg. Er hatte den Körperbau eines Linebackers, der sein Team verschluckt hat, und mit seinen einsfünfundneunzig musste er bei den meisten Türen den Kopf einziehen.
Joe fand den Spitznamen super. Er war ein Fan von Bruce Springsteen. Er besaß alle seine Alben und Singles und hunderte Stunden Livekonzerte auf Kassette. Er
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