Voodoo
einen Beweismittelbeutel, in dem ein Blatt Papier aus einem Schulheft steckte.
Boukman hatte ein Foto aus der Zeitung ausgeschnitten, das Max bei seinem Prozess zeigte, und in die Mitte des Blattes geklebt. Darunter hatte er in seiner seltsamen Kinderhandschrift – Großbuchstaben ohne jeden Schnörkel, nur Striche und Punkte und so gerade wie mit dem Lineal gezogen – in Bleistift geschrieben: »DU GIBST MIR GRUND ZU LEBEN«. Darunter hatte er den Umriss von Haiti gezeichnet.
»Was zum Teufel meint er damit?«, fragte Joe.
»Das hat er vor Gericht zu mir gesagt, nachdem ich gegen ihn ausgesagt hatte«, erklärte Max und beließ es dabei. Er hatte nicht vor, Joe die ganze Wahrheit zu sagen. Nicht jetzt. Nie, wenn es nicht unbedingt sein musste.
Vor der Verhaftung hatte er Boukman zweimal von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden. Und nie zuvor hatte er solche Angst vor einem Menschen empfunden.
»Ich weiß nicht, wie’s dir geht, aber dieser Boukman hatte echt etwas Beängstigendes an sich«, sagte Joe. »Weißt du noch, wie wir da rein sind, in diesen Zombie-Palast?«
»Er ist auch nur ein Mensch, Joe. Ein kranker, verquerer Typ, aber immer noch ein Mensch. Aus Fleisch und Blut wie du und ich.«
»Er hat nicht einen Ton von sich gegeben, als du ihn zusammengeschlagen hast.«
»Ach ja? Und ist er auf einem Besenstiel davongeflogen?«
»Mir ist egal, wie viel Carver dir zahlt, Mann. Ich finde, du solltest nicht hinfahren. Sag nein«, sagte Joe.
»Wenn ich Boukman in Haiti über den Weg laufe, werd ich ihm einen schönen Gruß von dir bestellen. Und dann knall ich ihn ab«, sagte Max.
»Du kannst es dir nicht leisten, das auf die leichte Schulter zu nehmen«, sagte Joe verärgert.
»Tue ich nicht.«
»Ich habe dir eine Waffe besorgt.« Joe senkte die Stimme und beugte sich vor. »Eine nagelneue Beretta mit zweihundert Schuss, Dumdum und völlig sauber. Gib mir deine Flugdaten, die Waffe wartet dann in der Abflughalle auf dich. Hol sie ab, bevor du an Bord gehst. Und eins ist wichtig: Bring sie nicht wieder mit zurück. Sie bleibt in Haiti.«
»Damit kannst du dir richtig Ärger einhandeln – einem verurteilten Schwerverbrecher eine Waffe zuzuspielen«, witzelte Max und schob sich die Ärmel bis unter die Ellbogen hoch.
»Ich kenne keine Schwerverbrecher, aber ich kenne einen anständigen Menschen, der mal eine falsche Entscheidung getroffen hat«, grinste Joe. Sie prosteten sich zu.
»Danke, Mann. Danke für alles, was du für mich getan hast, als ich weg war. Ich schulde dir was.«
»Du schuldest mir gar nichts. Du bist Bulle. Wir passen auf einander auf. So war das immer, und so wird es immer bleiben, das weißt du.«
Je nachdem, wofür er verurteilt worden war – unverzeihlich waren nur Vergewaltigungen und Kindesmissbrauch –, war ein Bulle im Knast vom System geschützt. Im ganzen Land existierte ein inoffizielles Netzwerk, und die Polizeibehörden eines Bundesstaates hatten ein Auge auf einen verurteilten Polizisten aus einem anderen Staat. Irgendwann würden die sich revanchieren. Oft wurden verurteilte Kollegen für ein oder zwei Wochen in einem Hochsicherheitsgefängnis gehalten und dann in aller Stille in eine Vollzugsanstalt mit niedriger Sicherheitsstufe und überwiegend Wirtschaftskriminellen verlegt. War das nicht möglich, wurden die gefallenen Bullen von den anderen abgeschirmt in Einzelhaft gehalten, die Wärter brachten ihnen Essen aus ihrer eigenen Kantine und ließen sie allein duschen und Sport treiben. Wenn die Einzelzellen belegt waren – was oft der Fall war –, kamen die Polizisten zur Not auch in den allgemeinen Vollzug, aber dann waren ständig zwei Wärter in der Nähe, um auf sie aufzupassen. Obwohl Max in New York gesessen hatte, hatte Joe ohne Probleme dafür sorgen können, dass man seinem Freund in Rikers eine Fünf-Sterne-Behandlung angedeihen ließ.
»Bevor du fliegst, solltest du mal mit Clyde Beeson reden«, sagte Joe.
»Beeson?« Von allen Privatdetektiven in Florida war Clyde Beeson sein größter Konkurrent gewesen. Max hatte ihn verachtet, spätestens seit dem Boukman-Fall.
»Vor dir hat er für Carver gearbeitet. Ist nicht allzu gut gelaufen, wie ich gehört habe.«
»Was ist passiert?«
»Das soll er dir selbst erzählen.«
»Er wird nicht mit mir reden.«
»Wird er, wenn du ihm sagst, dass du nach Haiti gehst.«
»Gut, ich fahr zu ihm, wenn ich Zeit habe.«
»Nimm dir die Zeit«, sagte Joe.
Es war kurz vor Mitternacht, und unten
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