Voodoo
Chantale.
»Tonton Clarinette«, sagte sie.
Sie machten sich daran, nach Zeugen von Charlies Entführung zu fragen. In den Geschäften fingen sie an, den kleinen Lebensmittelläden ohne Klimaanlage und mit wackeligen Regalen, den Geschäften für Töpfe und Pfannen und Holzlöffel und Kellen, den Schnapsbuden, einer Bäckerei, einem Schlachter, wo ein halb gehäutetes Hühnchen an einem Haken hing, einem Händler für gebrauchte Autoteile und einem Geschäft, in dem nur strahlend weiße Hühnereier verkauft wurden. Überall er hielten sie die gleiche Antwort: Mpas weh en rien – ich habe nichts gesehen.
Dann befragten sie die Leute auf der Straße. Chantale zeigte ihnen das Poster und stellte die Fragen.
Keiner wusste irgendetwas. Die Leute schüttelten den Kopf, zuckten mit den Achseln, antworteten mit ein bis zwei Sätzen oder einem langen, heiseren Redeschwall. Max stand daneben und musterte die Befragten mit Polizistenblick, er suchte nach den verräterischen Anzeichen, dass sie logen oder etwas für sich behielten, aber er sah nur erschöpfte, halb schlafende Männer und Frauen unbestimmbaren Alters, die nichts Rechtes damit anzufangen wussten, dass die Dame mit der hellen Haut und der weiße Mann ihnen plötzlich so viel Aufmerksamkeit schenkten.
Nach über einer Stunde beschloss Max, den Schuster ausfindig zu machen, von dem Francesca gesprochen hatte. Er hatte schon die ganze Zeit danach Ausschau gehalten, aber ihn nicht gefunden. Vielleicht waren sie daran vorbeigelaufen, oder der Laden hatte inzwischen dicht gemacht. Mindestens die Hälfte der Leute hier ging barfuß, sie hatten breite, krumme Füße, die wächserne Hornhaut an den Sohlen und Fersen war so dick, dass er bezweifelte, dass sie in ihrem Leben jemals Schuhe getragen hatten.
Sie gingen zurück Richtung Wagen. In ihrer Nähe stand ein alter Mann hinter einem Holzkarren mit einer Kühlbox und mehreren grellbunten Sirupflaschen und schaufelte Eiskugeln in Pappbecher.
Max sah ihm an, dass er auf sie beide gewartet hatte. Er hatte ihn schon früher aus den Augenwinkeln bemerkt. Er war ihnen gefolgt, als sie sich durch die Menge gearbeitet hatten, hatte in nicht allzu großer Entfernung seinen Karren hinter ihnen hergeschoben, Eis aus seiner Box gekratzt und sie beobachtet.
Als Max näher kam, fing er an zu reden. Max glaubte, er wolle ihnen sein bakterienverseuchtes Eis aufschwatzen, und winkte ab.
»Sie sollten sich das anhören, Max«, sagte Chantale. »Er redet über die Entführung.«
Der Mann behauptete, alles gesehen zu haben, und zwar ungefähr von dort, wo jetzt ihr Wagen stand, nur auf der anderen Straßenseite. Seine Version der Ereignisse deckte sich weitgehend mit der von Francesca. Faustin war mit dem Wagen an den Straßenrand gefahren und hatte lange dort gestanden und gewartet. Der Eisverkäufer hatte sogar gehört, wie Faustin die beiden Frauen beschimpfte.
Zu dem Zeitpunkt hatte sich bereits eine Menschenmenge um den Wagen gebildet. Faustin hatte das Seitenfenster heruntergedreht und die Leute angeschrien, sie sollten verschwinden und ihn in Ruhe lassen. Als sich niemand vom Fleck rührte, hatte er ein Gewehr herausgeholt und ein paar Schüsse in die Luft gefeuert, woraufhin Rose ihm von hinten ins Gesicht gegriffen hatte, um ihm die Augen auszukratzen. Da hatte er sie erschossen.
Viele aus der Menge hatten Faustin erkannt, jetzt stürmten sie mit Macheten, Messern, Knüppeln, Metallstangen und Steinen auf den Wagen ein. Sie zertrümmerten die Fenster, kippten den Wagen aufs Dach und wieder auf die Räder, sprangen auf dem Dach herum und schlugen Risse ins Blech. Der Mann sagte, bestimmt dreihundert Leute hätten sich über den Wagen hergemacht.
Faustin wurde durchs Dach aus dem Auto gezerrt. Er war blutüberströmt, aber noch am Leben, er bettelte um Gnade. Sie warfen ihn in die Menge. Der Eisverkäufer meinte, der Mob müsse ihn zu Hackfleisch verarbeitet haben, denn als sie weiterzogen, war von seinem Körper nicht mehr übrig als eine Blutlache mit Eingeweiden, ein paar Knochensplitter und Stofffetzen. Lachend erzählte er, wie sie ihm den Kopf abgeschnitten, auf einen Besenstiel gesteckt und Richtung La Saline getragen hatten. Faustin, sagte er, hatte eine unnatürlich große Zunge, mindestens so groß wie die einer Kuh oder eines Esels. Die Menge hatte versucht, sie ihm auszureißen, wie sie es auch mit seinen Augen gemacht hatten, aber sie hatten sie nicht losgekriegt, weshalb sie ihm am Ende bis zum Kinn aus dem
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